Bethnahrin.de im Gespräch mit Sait Yildiz

„Das Strafverfahren gegen Mor Gabriel vom 12.01.2009 wird zugunsten des Klosters ausgehen, weil alle Beschuldigungen aus der Luft gegriffen sind.“

Im Rahmen der Vorträge von Sait Yildiz über „Autonomie – Wunschtraum oder Realität?“ und die aktuelle Entwicklung bzgl. Mor Gabriel hatte das Webteam von bethnahrin.de die Möglichkeit, dieses Interview mit Sait Yildiz, ADO Vorsitzender Schweden, zu führen.

Bethnahrin.de: Shlomo Malfono Sait, viele Augsburger kennen dich zwar, aber kannst du dich für unsere anderen Leser vorstellen? Wo bist du geboren und aufgewachsen? Welchen beruflichen und politischen Werdegang hast du?

Sait: Ich bin im Jahre 1965 in Anhil/Turabdin geboren, nach einigen Jahren Aufenthalt in Midyat bin ich im Jahre 1980, wie viele Assyrer vor mir, als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Von 1980 bis 1983 habe ich mich in Augsburg aufgehalten und war im Mesopotamien Verein Augsburg 1982/1983 im Vorstand aktiv. Im Jahre 1983 habe ich meinen Lebensmittelpunkt nach Schweden verlegt. Ich war von 1986 bis 1991 Vorsitzender des Assyrischen Kulturvereins Norsborg, von 1989 bis 1990 im Vorstand des Assyriska Ungdoms Komitee (Vorgänger des assyrischen Jugendverbandes in Schweden AUF). In dieser Zeit kam ich mit Freunden der ADO in Kontakt und wurde im Jahre 1990 bis 1994 dort Mitglied. Von 1991 bis 1997 war ich im Vorstand des Assyriska Riksförbundet Sverige (ARS), diesen leitete ich als 1.Vorsitzender von 1991 bis 1994. Im Jahre 1994 entschloss ich mich über den zweiten Bildungsweg (Abendcollege) mein Abitur nachzuholen und zu studieren. Im Jahre 1997 begann ich mein Studium der Orientalistik/Politikwissenschaften in Uppsala und schloss es im Jahre 2001 ab. In meiner Abschlussarbeit ging ich auf den Seyfo von 1915 ein und stellte die Frage „Tragödie oder Genozid?“. Mein erneuter Beitritt zur Assyrisch Demokratischen Organisation (ADO) erfolgte im Jahre 2004. Seit 2005 bin ich der 2. Vorsitzender der ADO in Schweden. Darüber hinaus bin ich in der Linkspartei „Vänster“ aktiv und wurde im Jahr 2006 als Stadtrat für Södertälje gewählt. Hauptberuflich arbeite ich derzeit als Lehrer für Sozialwissenschaften hauptsächlich mit Flüchtlingen aus dem Irak zusammen.

Bethnahrin.de: Wie wir sehen, warst du seit deiner Ankunft in Europa aktiv. Was hat dich dazu bewegt?

Sait: Mich hat das Gedicht „Hubo u Hamro“ von Malfono Yuhanon Qashisho“ stark beeinflusst. Dieses Gedicht las ich im Jahre 1980 in der Zeitschrift Hujäda /Schweden im Hause von Ablahad Gecer in Augsburg. Als ich das Gedicht las, erkannte ich, dass die Sprache dieses Gedichtes, nicht der Sprache, die ich in meiner Sonntagsschule gelernt hab, entsprach. Das Gedicht handelte von der Liebe, vom Wein, von der Schönheit. Der Inhalt verwirrte mich und ließ bei mir einige offene Fragen. Um diese Fragen zu beantworten begann ich den Mesopotamien Verein Augsburg (früher: Äußeres Pfaffengässchen beim Dom) rege zu besuchen. Die Antwort auf meine Fragen erzeugte bei mir eine neue, viel wichtigere Frage: „Wer bin ich? Wer sind wir?“ Diese zwei Fragen waren es, die mich politisch aktiv werden ließen. Ab diesem Zeitpunkt las ich alles, was sich über unser Volk, unsere Geschichte in die Hände bekam. Malfono Mhasyo Hanna Gallio gehörte zu den Wenigen, die über viele Bücher, Broschüren, Magazine und Zeitschriften verfügte. Er sandte mir davon immer Kopien nach Augsburg. Hinzu kamen die Vorträge und Referate im Mesopotamien Verein die mich weiterbildeten.

Bethnahrin.de: Welche Beweggründe haben dich dazu bewogen, den Schritt von einem Kulturverein in eine politische Partei zu machen und was waren die Gründe für den Austritt und für den Wiedereintritt im Jahre 2004 in die ADO?

Sait: Ich bin überzeugt, dass die assyrische Frage eine politische Frage ist und nicht nur eine kulturelle, soziale und gesellschaftliche Frage. Die Lösung der politischen Frage ist in der Heimat. Deshalb bin ich Mitglied einer politischen Organisation geworden, die ihren Sitz in der Heimat hat. Als Jugendvorstand arbeitete ich mit Zaki Bisso eng zusammen. Zaki war ADO-Vorstand in Södertalje und durch ihn wurde auch ich 1990 Mitglied der ADO. Mein politisches Interesse wurde vorher durch meine Kontakte mit den Linken aus der Türkei in meiner Zeit in Augsburg geweckt. Wie bekannt arbeitete die ADO damals in Syrien und Europa geheim, und nicht öffentlich. Dieses System konnte nach meiner Meinung in Europa nicht funktionieren und bestehen. Folglich erkannte ich, dass ich dort nichts bewirken konnte und trat damals aus. Als die ADO in ihrem 10. Kongress im Jahre 2003 beschloss, dass sie in Zukunft öffentlich arbeitet, da kamen 2004 Bashir Saadi und Gabriel Mushe nach Schweden und besprachen mit mir den Wiedereintritt in die ADO. Als ich sah, dass die Gründe für meinen Austritt beiseite geschafft wurden, sah ich keinen Grund mehr, außerhalb der ADO zu arbeiten und trat wieder ein.

Betnahrin.de: Warum ausgerechnet wieder in die ADO? Damals waren doch auch andere politische Parteien, wie ZOWAA sehr aktiv?

Sait: Ideologisch gibt es keine Unterschiede zwischen der ADO und ZOWAA. Deshalb war es nicht logisch, dass ich in eine andere politische Partei eintrete, die dieselben Ziele verfolgt. Und deshalb war es für mich selbstverständlich in die Organisation einzutreten, in welcher ich früher gearbeitet habe.

Bethnahrin.de: Was unterscheidet die Arbeit eines Verbandes, von der Arbeit einer politischen Organisation oder Partei? Kann man als ARS oder ZAVD nicht die gleiche Arbeit tun, wie die ADO?

Sait: Die Verbände sind für ihre Mitglieder und unser Volk, welches sich in Schweden und Deutschland befindet, gegründet worden. Ihre Aufgabe besteht darin, gegen die Assimilation anzukämpfen und die Integration zu fördern. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht politisch arbeiten; die Integration und der Kampf gegen die Assimilation ist auch politische Arbeit. Damit man für diese zwei Ziele arbeitet, braucht man soziale und kulturelle Arbeit. Das ganze Volk hat die Möglichkeit in diese Verbände einzutreten und aktiv zu sein. ADO, als politische Organisation, arbeitet und ist politisch aktiv in der Heimat und in der Diaspora. Wie vorhin schon angesprochen, ist die assyrische Frage eine politische Frage und sie braucht eine politische Partei, welche in der Heimat verankert ist. Die Assimilations- und Integrationsarbeit, die die Verbände leisten, sind zwei Teile des gesamten gemeinsamen Ziels. Das Argument, dass es keiner politischen Partei/Organisation bedarf, zieht nicht, weil vergessen wird, dass man in Europa lebt und die politische Arbeit auch hier von Parteien gemacht wird, und nicht von Verbänden oder anderen Institutionen. Wir als ADO sagen, dass Verbände und politische Parteien sich gegenseitig ergänzen. Es bedarf nur einer Aufgabenteilung.

Bethnahrin.de: Im heutigen Vortrag konnten wir erkennen, dass du bzgl. einer Autonomie für unser Volk im Irak optimistisch gestimmt bist. Woher kommt dieser Optimismus?

Sait: Der Optimismus basiert auf den Erfahrungen unserer Reise in den Irak vom 02. bis 10.Oktober 2008 und das, was wir so unterm Volk gesehen und erlebt haben. Die Frage der Autonomie wird auf allen Ebenen sehr ernst diskutiert. Die politischen Parteien, Organisationen, Kirchen und Vereine sind überzeugt, dass die Autonomie die einzige Lösung der assyrischen Frage ist. Nur diese Option gewährleistet die weitere Existenz unseres Volkes im Irak. Während unserer Sitzungen mit den anderen ethnischen Gruppen, speziell mit den Vertretern der Kurden, z.B. Herr Adnan Mufti, Parlamentspräsident der Kurdischen Region im Irak, wurde dies auch so gesehen.

Bethnahrin.de: Unsere politischen Kräfte in der Heimat sind in dieser Frage nicht einig? Wie kommt dies und warum ist es für die ADO die einzige Option?

Sait: Die Mehrheit der politischen Parteien und der Persönlichkeiten unseres Volkes, mit Ausnahme von ZOWAA, als die größte politische Partei, sind einig über die Forderung der Autonomie für die Assyrer Chaldäer Syrer im Irak. Nach mehreren Reisen in den Irak und entsprechenden Analysen bzgl. der Situation unseres Volkes und nach den Flüchtlingsströmen, und der rasanten Abnahme der Bevölkerungszahl unseres Volkes sehen wir als ADO das Autonomie-Projekt als ein strategisches und nationales Projekt, das garantieren kann, die Existenz und Zukunft unseres Volkes zu gewährleisten.

Bethnahrin.de: Was ist der Unterschied zwischen der Forderung nach Autonomie bzw. der schon verfassungsrechtlich gewährten kulturellen, sprachlichen und administrativen Rechten?

Sait: Wir sehen, dass wir die kulturellen, sprachlichen und administrativen Rechte schon in der irakischen und kurdischen Verfassung haben. Die Existenz dieser Rechte hat nicht gereicht, unserem Volk die Hoffnung zu geben, dass er in der Heimat bleibt. In der Autonomie besitzt man das Recht selbst legislativ tätig zu sein, ebenso für die Sicherheit der Bevölkerung in der Autonomiezone zu sorgen.

Bethnahrin.de: Welche Zeiträume sind für dieses Ziel anvisiert? Wovon hängt die Realisierung ab?

Sait: Es ist schwierig eine Zeit zur benennen. Die Frage hängt einerseits von der Situation des gesamten Iraks, andererseits von uns ab, inwiefern wir Einfluss auf die Kräfte (Amerika, Europa, das kurdischen und irakische Parlament) die über die Zukunft des Iraks bestimmen, ausüben können.

Bethnahrin.de: Was steht konkret auf der Agenda der ADO bzgl. dieser Frage an?

Sait: Wir haben entschieden, dass wir in dieser Frage mit allen Organisationen und Institutionen unseres Volkes zusammenarbeiten, die die Forderung nach Autonomie mit uns teilen. Parallel werden wir unsere Beziehungen und Zusammenarbeit mit ZOWAA, um sie für dieses Ziel zu gewinnen, fortführen. Am 14.02.2009 haben wir alle unsere Parteien, Organisationen und Verbände -ohne Namensunterschied- zu einer gemeinsamen Sitzung in Brüssel eingeladen, um ein Koordinationsbüro zu schaffen.

Bethnahrin.de: Was unterscheidet dieses künftige Büro von dem jetzt bestehenden Assyrian Council of Europe (ACE)?

Sait: ACE ist auch zu dieser Sitzung eingeladen. Das Ziel dieser Sitzung ist es, dass wir uns einig werden über Punkte, die das Koordinationsbüro als Agenda haben wird. Der wichtigste Punkt ist natürlich die Forderung nach einer Autonomie für unser Volk im Irak. Der zweite Punkt ist die Zukunft der Flüchtlinge die wir in Damaskus und Amman haben. Die Rückkehr in ein sicheres Gebiet im Irak muss gewährsleistet werden. Alle Tagesordnungspunkte wurden an die betreffenden Institutionen gesandt.

Bethnahrin.de: Um zum zweiten Teil des Vortrages zu kommen. Wie stellt sich die Situation bezüglich Mor Gabriel aus deiner Sicher dar?

Sait: Die Frage von Mor Gabriel muss man politisch und nicht juristisch betrachten. Der türkische Staat mit den Feudalherren (Agas) im Turabdin versucht Mar Gabriel’s Bedeutung einzuschränken. Mor Gabriel ist der verbliebene Zentrum, der unserem Volk die Hoffnung sowohl im Turabdin als auch in der Diaspora gibt. Die Beschuldigungen gegen Mor Gabriel zeigen, dass es sich um eine politische Frage handelt. Die Mauer um Mor Gabriel wurde vor über 15 Jahren errichtet, ohne 6 dass es rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten gab. Die Ländereien, die nicht Mor Gabriel gehören sollen, wurden seit Jahrzehnten von Mor Gabriel versteuert. Wenn wir die Klagen, außer der Grenze und Mauer betrachten, z.B. die Beschuldigung von Missionärstätigkeit, die Heranziehung von „Terroristen“ oder die große Lüge Mor Gabriel wurde an einem Ort einer Moschee errichtet, zeigen, dass unsere Sicht richtig ist und dass es sich um eine politische Frage handelt. Wir werden sehen, wie die vor uns liegenden Verhandlungen ausgehen werden.

Bethnahrin.de: Was erwartest du für Urteile?

Sait: Das Strafverfahren gegen Mor Gabriel vom 12.01.2009 wird zugunsten des Klosters ausgehen, weil alle Beschuldigungen aus der Luft gegriffen sind. Dieses Verfahren kann Präjudizwirkung auf die zwei weiteren Verfahren haben.

Bethnahrin.de: Ist es denkbar, dass wir als Minderheit in der Türkei von den Rechten nach dem Lausanner Vertrag profitieren? Genügen uns diese Rechte oder müssen wir neue Forderungen nach den Kopenhagener Kriterien oder sonstigen internationalen Abkommen verlangen?

Sait: Grundsätzlich ist der Lausanner Vertrag auch auf uns anwendbar. Alle nichtmuslimischen Völker wurden unter dem Schutz des Lausanner Vertrages gestellt. Wir müssen uns nicht mit der Frage von Lausanne beschäftigen; dies heißt jedoch nicht, dass wir nicht diese Rechte verlangen bzw. fordern dürfen. Unsere Forderung von der Türkei muss sein, dass eine Anerkennung des Genozids durch die Türkei erfolgt und dass wir in der türkischen Verfassung als indigenes Volk anerkannt werden.

Bethnahrin.de: Welche Rechte ergeben sich daraus?

Sait: Wenn wir als indigenes Volk anerkannt werden, wird die Verantwortung des Staates sein, die Existenz des indigenen Volkes zu gewährleisten. In Schweden sind 7 die „Samer“ als indigenes Volk anerkannt. Ihre Bevölkerungsanzahl beträgt weniger als 10000. Sie haben ihr eigenes Parlament, sie können selbst über ihre internen Fragen entscheiden. Es ist Aufgabe des schwedischen Staates die Möglichkeiten zu schaffen, dass diese Kultur, Sprache und Identität fortbesteht.

Bethnahrin.de: Wir bedanken uns auch im Namen des Mesopotamien Vereins für den Vortrag und das Interview. Möchtest du unseren Lesern noch etwas mitteilen?

Sait: Ich bedanke mich im Namen der ADO beim Mesopotamien Verein Augsburg der uns die Möglichkeit gegeben hat diesen Vortrag zu halten. Danke an das Webteam von bethnahrin.de für das Interview und die Übersetzung meiner Präsentation in die deutsche Sprache. Den Lesern wünschen wir ein gutes neues Jahr. Wir haben die Hoffnung, dass dieses Jahr ein Jahr der Auferstehung des assyrischen Volkes sein wird, um zu seinen nationalen Rechten in der Heimat zu gelangen.

Taudi. Augsburg,
05.01.2009
Webteam bethnahrin.de

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