Nationalbewusstsein – Die politische Situation der Assyrer

Naoum Faik (1868 - 1930)

Naoum Faik (1868 - 1930)

Beinahe volle zwei Jahrtausende waren die Assyrer ein rein religiöses Volk, eine Trennung von Weltlichkeit stand bis zum späten 19. Jahrhundert nie zur Debatte, da die Kirchen neben der geistlichen auch eine weltliche Macht ausübten. Erst um 1850 entsteht bei diesem kleinen Volk langsam eine nationale Identität. Eingeleitet wurde dieser Prozess durch das Teilhaben einiger weniger assyrischer Intellektueller an den neuen philosophischen und politischen Gedanken des Westens wie der Reformation, der Aufklärung oder beispielsweise dem der französischen Revolution nachfolgenden Nationalstaatsgedanken. Zu diesen Pionieren gehören beispielsweise Naum Faik (1868-1930) aus Omid (heutiges Diyarbakir), Freydon Atouraya (1891-1926) oder Professor Ashur Yusuf (1858-1915), der am Euphrat College lehrte.

Die Lage des assyrischen Volkes stellte sich zu ihrer Zeit sehr kompliziert dar. Der ersten Kirchenspaltung im 5. Jahrhundert sollten noch einige mehr folgen, wie beispielsweise die Entstehung der chaldäischen Kirche 1552 (aus der apostolischen Kirche, uniert mit Rom) oder der syrisch-katholischen Kirche im 17. Jahrhundert (aus der syrisch-orthodoxen Kirche, ebenfalls mit Rom uniert). Die Assyrer gehörten mittlerweile fünf und mehr Konfessionen an, zählt man historisch weiter entfernte Denominationen wie die Melkitische oder auch die Maronitische dazu. Hierzu stellten sich nach zahlreichen Massakern, in der Neuzeit 1843 durch Bedr Khan beginnend, noch Massenübertritte zur evangelischen oder der russisch-orthodoxen Kirche ein. Die bei den Assyrern von jeher sehr bedeutende konfessionelle Einheit war also zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig zerstört.

Dazu gesellte sich noch die verschieden verlaufende philologische Entwicklung in West und Ost, vor allem während der Herrschaft der Osmanen im Westen und der Perser im Osten. Es entwickelten sich in die Neuzeit hinein verschiedene Dialekte des Syrischen, die man grob in Westsyrisch (Turoyo) und Ostsyrisch (Sureth) unterteilen kann. Diese unterscheiden sich vor allem in Vokalisierung, Betonung und Aussprache (härtere im Westen), weniger jedoch grammatikalisch, da sich die gemeinsame Hochsprache (Kthobonoyo) relativ ähnlich erhielt – sie existiert im Grunde jedoch nur noch als Liturgiesprache oder für den intellektuellen Gebrauch, den Status einer Volkssprache erfüllt sie in keinster Weise. Der Wissenschaft ist es bisher auch nicht gelungen einen gemeinsamen Ursprung für die Hochsprache und den gesprochenen Dialekte nachzuweisen. Dies betonte der Philologe Dr. Sabo Talay in einem Vortrag im Jahre 2002.

In dieser stürmischen Zeit also, zwischen den Wirren der Missionierung, den Massakern an den syrischen Christen und der neuen geistigen Öffnung des Nahen Ostens, erwachte unter den Assyrern ein nationales Bewusstsein. Diese wurde angetrieben von den archäologischen Funden der Briten und Engländer, von denen beispielsweise Botta oder Layard durch ihre Ergebnisse zu Weltruhm gelangten. Bis in die Jahre des Völkermords an den Armeniern, Assyrern und Griechen durch die Jungtürken und Kurden 1914-1918 blieb der nationale Gedanke jedoch weitgehend einem kleinen Zirkel intellektueller Assyrer vorbehalten, eine Politisierung dieses Gedankens und somit des eigenen Volkes gelang nicht.

Stattdessen nahm vor allem der Führer der Alten Apostolischen Kirche Mar Benjamin Shimun (♰1918) den Einheitsgedanken auf und bündelte die Kräfte des von der Ausrottung bedrohten Volkes unter dessen antiken Namen Ashur und Chaldo. Nach dessen Ermordung durch den Clan des kurdischen Führers Simco Agha verlor jedoch diese erste von Einheit geprägte Bewegung an Antrieb und so präsentierten sich die Assyrer bei den Friedenskonferenzen in Paris und Lausanne (1921 – 1923) in ihrer Führung gespalten.

Was folgte ist bekannt: Die Assyrer, sich selbst durch ihre Uneinigkeit schwächend, wurden von England hintergangen und fanden sich um 1930 in einen neu geordneten Nahen Osten als Minderheit wieder, die sich auf verschiedene staatliche Gebilde verteilte und völlig schutzlos war. Auf die Zeit der Massenmorde folgte die Zeit der Massenflucht. Vor allem vor den Oppressionen der neuen kemalistischen Türkei flohen die Assyrer aus Hakkari in den Irak. Dort wurde ihnen ihre Aussichtslosigkeit spätesten 1933 klar, als am 7. August die irakischen Truppen ein Massaker an den Assyrern von Simele verübten. Viele Assyrer flohen auch nach Russland und in den Kaukasus, Regionen in denen sich schon seit Anfang des Jahrhunderts assyrische Gemeinden gebildet hatten.

Gilt der Zeitpunkt der kommunistischen Revolution in Russland für die Assyrer historisch als extrem ungünstig, da sich ab 1917 der militärische Schutz in Persisch-Mesopotamien dadurch verlor, so bleibt jedoch festzuhalten dass die Assyrer sich von dieser neuen politischen Bewegung einiges erhofften. Eine Hoffnung die bitter enttäuscht wurde, was beispielsweise die Ermordung des großen politischen Denkers Freydoun Aturaya durch die neue kommunistische Führung 1927 bewies. Auch in Syrien stellte sich eine deutlich bessere Situation dar. Aktivisten wie Johanon Qashisho (1918-2001) oder Shukri Charmoukly erahnten sehr bald, dass ihre Hoffnung auf nationale Minderheitenrechte für die Assyrer (von einem eigenen Staat war nach dem Fiasko der Friedenskonferenzen keine Rede mehr) sich sehr vage darstellten. Daraus entstand endgültig die Idee der Etablierung eigener politischen Parteien. Trotz der Gründung der Assyrischen Sozialistischen Partei im Jahre 1923 durch Freydon Atouraya, gilt im Allgemeinen die Assyrische Demokratische Organisation, gegründet am 15. Juli 1957 in Aleppo, als erste politische Partei der Assyrer. Diese operierte lange Jahre im Untergrund und ihre Ziele waren erstmals offiziell und klar definiert: Schutz der Existenz des assyrischen Volkes und die Verwirklichung seiner legitimen nationalen Bestrebungen (politischer, kultureller und administrativer Natur) in seinem historischen Heimatland. Dazu gehört natürlich auch die Pflege der assyrischen Sprache, des Syrischen, sowie der eigenen Kultur und Tradition.

Die Assyrian Universal Alliance wurde 1968 als Dachverband der sozialen und kulturellen Vereinigungen gegründet und übernahm zudem eine Vertretung der Assyrer bei den Vereinten Nationen. Sie veranstaltete Weltkongresse auf denen zum Teil wichtige Deklarationen verabschiedet werden konnten. Von ihr ging beispielsweise auch die Festsetzung der heutigen assyrischen Nationalflagge aus. Diese wurde von George Bit Atanus aus Teheran gestaltet.

Weitere assyrische Parteien gründeten sich im Irak 1973 mit der Assyrischen Patriotischen Party (APP/ Watani al Ashuri) und 1979 mit der Assyrischen Demokratischen Bewegung (ADM/auch „Zowaa“ genannt). Zowaa ist vor allem durch die politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte im Irak in einen starken öffentlichen Fokus gelangt, zu nennen wären hier vor allem der Iran-Irak-Krieg zwischen 1980 und 1988 sowie der erste Golfkrieg und die nachfolgende No-Fly-Zone nördlich des 36. Breitengrads. Nach dem Sturz des Baath-Regimes und seines Oberhaupts Saddam Hussein stellt Zowaa auch heute noch die bedeutendste assyrische Partei im gesamten Nahen Osten überhaupt dar. Ihr Vorsitzender ist Yonadam Kanna, der unter den Assyrern vor allem als Rabi Yacoub Youssef bekannt ist.

In der Türkei gibt es heute keine politische Aktivität der Assyrer. Nach einem Jahrhundert der Verweigerung des rechtlichen Status, der Unterdrückung und Ermordung hat die Türkei sich des Problems mit diesem christlichen Volkes im politischen Sinne entledigt: die Region Hakkari ist entvölkert, der Tur Abdin wird von nur noch 3 000, zumeist alten, Menschen bewohnt, dazu kommen weitere 12 000 Assyrer in Istanbul.

Im Iran hat sich die Zahl der Assyrer von einer knappen Million auf 50 000 reduziert. Heute werden ihnen gewisse Rechte zugestanden. Der größten Gemeinde in Teheran geht es recht gut. Eine aktive politische Bewegung gibt es nicht.

In der Diaspora gründeten sich im Laufe der Zeit weitere politische Parteien, was vor allem auf das Vakuum zurückzuführen sein dürfte, welche die etablierten Parteien hatten entstehen lassen.

Zur Lektüre über weitere politische Parteien, wie der GFA, Shuraya oder ANO, ist ein informativer Aufsatz von Dr. Eden Naby, der im assyrischen Magazin Assyrian Star (55. Jahrgang; 1. Ausgabe; Frühjahr 2003) veröffentlicht wurde, sehr zu empfehlen.

Die heutige Situation der Assyrer erfordert nun vor allem die Umsetzung zweier bedeutender Punkte:

Zum einen wäre da die soziale und kulturelle Etablierung der Assyrer in ihrer Heimat zu nennen, vor allem im Irak und in Syrien. Zum anderen ist zu hoffen dass die politischen Parteien endlich zu der Überzeugung gelangen, dass ihre Arbeit in den Heimatländern durch eine vereinigte politische Lobby unterstützt werden muss. Zu undurchsichtig sind die einzelnen Konstellationen im Hintergrund der Parteien, zahlreiche Interessen externer Kräfte dürfen hier vermutet werden – ein Fakt, der die eigenen Einheitsbestrebungen unmöglich macht.

Zudem hat die Arbeit der Assyrer in den letzten beiden Jahrzehnten in Europa deutlich gemacht, dass sich die Aktivität politischer Parteien hier sehr oft auf die eigene Volksgruppe beschränkt hat. Zwar konnten Kontakte zu verschiedensten Institutionen etabliert werden, die Assyrer selbst haben sich jedoch in die hiesige Gesellschaft nicht integriert, speziell was die politische Bühne betrifft. Noch heute wartet man etwa in Deutschland auf Assyrer in Landtagen oder dem Bundestag. Auch in bedeutenden Ausschüssen einzelner Parteien ist keine bessere Situation erkennbar. Die heutigen assyrischen Parteien sind nun gefragt der Jugend eine gute politische Ausbildung zukommen zu lassen. Wichtig ist dabei die Annahme einer europäischen Perspektive. Dabei ist mittlerweile von einer in politischer Hinsicht nahöstlich-gefärbten Meinungsbildung abzusehen.

Gelingen die genannten Reformen und das Erreichen der Ziele, so darf davon ausgegangen werden, dass die Assyrer im 21. Jahrhundert wieder ihre legitime Stimme im bunten Mosaik der Völker einnehmen. Gerade im heutigen Informationszeitalter eröffnen sich für kleine Völker ungeahnte Möglichkeiten, welche an uns nicht vorbeigehen dürfen.

Aryo Makko

Augsburg, im April 2003