Der Berg der Gottesknechte

Im Südosten der Türkei kämpfen die Assyrer, eines der ältesten christlichen Völker der Welt, um ihre Existenz

Von Martyna Czarnowska Ein Besuch im Kloster Mor Gabriel. Noch ist der Morgen nicht erwacht, als die Glocke zum Morgengebet läutet. Es ist kurz nach fünf. Die Nonnen und Mönche des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel im Südosten der Türkei müssen früh aufstehen. Noch liegen die Hügel, die den sandsteinfarbenen Gebäudekomplex umgeben, in Dämmerschatten. Die Weite Mesopotamiens, die im Frühling feldblumenbunten, im Sommer sonnenverbrannten Wiesen entfalten noch nicht ihre starke Wirkung.

Assyrer aus aller Welt

Besonders für die Frauen beginnt wieder ein arbeitsreicher Tag. Nach dem Morgengebet bereiten die Nonnen das Frühstück zu: für die Mönche, die Schüler, die Pilger und für sich selbst. Sie kochen auch das Mittag- und das Abendessen. Sie pflanzen auch Gemüse im Garten an, melken die Kühe, machen Joghurt, Käse und Marmelade, waschen die Wäsche, putzen die vielen Klosterräume. Erst am Abend, vor dem letzten Gebet, finden sie manchmal Zeit, sich hinzusetzen und mit den Besucherinnen zu plaudern. Nur wenige von ihnen sprechen Türkisch, aber etliche Arabisch, wie so viele Assyrer.

Die meisten, die Mor Gabriel besuchen und ein paar Tage im Kloster verbringen, sind Assyrer, also syrisch-orthodoxe Christen; sie kommen aus aller Welt. Ihre Eltern stammen nämlich von hier, vom Schnittpunkt zwischen der Türkei, Syrien, dem Iran und Irak. Aber der Großteil ihrer Heimat lag in der jetzigen Türkei. Vor einem halben Jahrhundert haben noch mehr als 600.000 Assyrer hier gelebt. Jetzt sind es nur mehr rund 3000. Die meisten Assyrer leben heute in Europa: in Deutschland, Österreich, Schweden, in den Niederlanden.

Sie haben keinen eigenen Staat und keine Regierung, im Gegensatz etwa zu den Armeniern. Was sie verbindet, sind vor allem Religion und Sprache. Jene Sprache, die auch Jesus gesprochen hat: Aramäisch . Doch diese Sprache stirbt aus. Nur noch wenige Alte können die verschnörkelte, von rechts nach links geschriebene Schrift lesen, ihre Enkelkinder lernen lieber Deutsch, Holländisch oder Englisch als Aramäisch. So auch die Töchter von Ben, der aus den USA nach Mor Gabriel gekommen ist, um hier seinen sechs Monate alten Sohn taufen zu lassen. Oder wie die Kinder von Naomi, deren Vater aus der Türkei nach Syrien, später in den Libanon gezogen ist, von wo ihn der Krieg vertrieben hat, und der schließlich mit seiner Familie in Schweden eine Bleibe fand.

Im Kloster wird noch Aramäisch gesprochen – und auch noch unterrichtet. Neben dem Bischof leben hier drei Mönche, 14 Nonnen, zwei Familien und drei Dutzend Schüler. Sie sind Söhne christlicher Familien aus der Umgebung, die während der Woche die türkische Schule im nahe gelegenen Midyat besuchen und am Wochenende Aramäisch lernen. Tur Abdin heißt die nun vorwiegend von Kurden bewohnte Gegend, „Berg der Gottesknechte“.

Seit 1600 Jahren steht das Kloster schon hier. Immer wieder wurden die Mönche vertrieben, immer wieder wurde das Kloster zerstört. Perser, Araber, Mongolen, die Horden Tamerlans zogen über das Land hinweg. Doch die größte, schlimmste, schrecklichste Katastrophe in Tur Abdin ereignete sich im 20. Jahrhundert: Die Massaker von 1915 betrafen nicht nur Armenier, sondern auch Assyrer. In den vierziger Jahren wurden viele von ihnen zur Zwangsarbeit im Straßenbau verurteilt.

Zwischen den Fronten

Als in den sechziger Jahren Deutschland und Österreich auch Christen als Gastarbeiter anwarben, gingen viele nicht ungern in den Westen. Und spätestens in den achtziger und neunziger Jahren flohen sie aus ihrer Heimat. Denn damals tobte der Kampf zwischen der türkischen Armee und der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Außerdem fürchtete man die Dorfwächter, eine paramilitärische Einheit, die für Morde, Entführungen und Landenteignung verantwortlich gemacht wird. Zwischen den Fronten aber befanden sich die Assyrer. Sie wurden getötet oder vertrieben, ihr Besitz konfisziert.

Die geblieben sind, beklagen den Exodus. „Vor 40 Jahren lebten in Midyat rund 1000 Familien, und die meisten von ihnen waren christlich“, erzählt Isa Dogdu von der Stiftung, die das Kloster Mor Gabriel verwaltet. „Heute hat die Stadt rund 70.000 Einwohner, von denen höchstens 400 Christen sind. Es gibt nur mehr einen Priester, früher waren es vier.“ Die Aramäer haben einst die Altstadt von Midyat geprägt; sie bauten die Kirchen und die mehrstöckigen honigfarbenen Steinhäuser mit den hohen Fenstern und den flachen Dächern, auf denen die Familien im Sommer schlafen.

„Wir werden hier im Kloster, das seit dem Jahr 397 besteht, nicht in Frieden gelassen“, sagt Kuryakos Ergün, der Stiftungsvorsitzende in Mor Gabriel. Es geht um Grund und Boden, welchen sowohl das Kloster als auch das Finanzamt und drei Dörfer in der Umgebung beanspruchen. Nachdem die Regierung beschlossen hatte, den Landkataster neu zu ordnen, haben die Behörden einen Teil des Bodens als Staatsbesitz deklariert und dem Kloster aberkannt. Doch die Dörfer wollten noch mehr – und brachten eine Klage gegen Mor Gabriel ein.

Aus diesem Prozess ging das Kloster zwar als Sieger hervor, doch es laufen noch drei weitere Gerichtsverfahren. Die Prozesse haben übrigens schon internationale Beachtung gefunden, etwa beim Europäischen Parlament. Der türkische Premierminister Erdogan plädiert für eine gütliche Einigung.

„Seit 1937 zahlen wir Steuern für dieses Land, das können wir mit Dokumenten beweisen“, erklärt Ergün. Und wie die meisten Assyrer deutet auch er an, dass es hier um mehr geht als bloß um einen Landstreit. Immer wieder ist bei Gesprächen herauszuhören, dass Christen unerwünscht seien in einem Land, dessen Einwohner zu mehr als 95 Prozent Muslime sind. „Das Leben soll uns hier schwer gemacht werden“, klagen die Assyrer. „Vor allem aber sollen die im Ausland Lebenden von der Rückkehr unbedingt abgehalten werden.“

Dennoch gibt es Rückkehrer. Etwa in einem Dorf rund 15 Kilometer von Midyat entfernt. Zwölf Familien leben seit ein paar Jahren hier, sie haben den Ort, der 1993 verlassen wurde, wieder aufgebaut. Ein paar Ruinen der alten Gebäude haben sie zur Erinnerung stehen gelassen, ihre neuen geräumigen Häuser sind im Stil ihrer Vorfahren errichtet, am Ortsrand wurde eine Marienkapelle erbaut.

„Wenn ich meine Kinder nicht hierher gebracht hätte, wüssten sie nicht, was ihre Heimat ist“, erklärt Matay, der aus Deutschland hierher zurückgekommen ist. Heute bestehe zwar keine Lebensbedrohung mehr, aber behördliche Schikanen gebe es immer noch. Und im Südosten der Türkei, wo sich die Armee und die als Terrororganisation eingestufte PKK immer wieder Gefechte liefern, könne man leicht in den Verdacht geraten, die PKK zu unterstützen.

Auf ihrem Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat die Türkei bereits einige Gesetze zur Stärkung von Minderheiten- und Menschenrechten ausgearbeitet. „Aber praktisch tut sich gar nichts“, meint Matay. „Wenn zum Beispiel eine Kirche unter Denkmalschutz gestellt wird, gibt es trotzdem keine öffentlichen Subventionen. Und wenn wir selbst Geld für eine Renovierung sammeln, heißt es, wir dürften das Kirchengebäude nicht anrühren, weil es denkmalgeschützt ist.“

Internet-Café im Dorf

Trotz aller Probleme ist Matay aber überzeugt, dass seine Rückkehr vor drei Jahren die richtige Entscheidung war. Und seine Frau gibt ihm Recht. „Er hat mich so erzogen“, fügt sie lachend hinzu. „Ständig hat er von seiner Heimat gesprochen.“ Das Paar hatte sich in Deutschland kennen gelernt – und erstaunt festgestellt, dass sie beide aus dem selben Dorf in der Türkei stammen. Mit ihren Kindern sprachen die Eltern Aramäisch; und neben ihrer Sprache pflegten sie auch ihre Religion. „Unsere Eltern haben aber nichts dagegen, wenn wir untereinander Deutsch sprechen“, erklärt Matays Tochter Similia. „Den wir sollen auch diese Sprache nicht verlernen.“ Similia möchte Medizin studieren, aber ob sie bis zur Aufnahmeprüfung in die Universität in zwei Jahren schon genügend Türkisch könne, weiß sie nicht. Als Christin habe sie in der türkischen Schule in Midyat jedenfalls keine Probleme. „Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass sich die Lehrer besonders um uns kümmern.“

Heute aber beschäftigt die Mädchen etwas anderes. Denn endlich soll im Dorf das Internet-Café eröffnet werden! In einem renovierten Haus wurden ein paar Tische und sechs Computer aufgestellt, nun müsste nur noch die immer wieder zusammenbrechende Internetverbindung endlich funktionieren. Ihr Leben hätte sich schon ein wenig verändert, sagen die Mädchen.

In Deutschland seien sie gern ausgegangen, auf ein Eis oder ins Kino. Hier gebe es das nicht. „Aber wir unternehmen ständig irgendetwas zusammen“, sagt Similia. Und wenn sie auf dem Dach der alten verfallenen Kirche steht und in die Weite von Tur Abdin hinab schaut, spürt vielleicht auch sie ein Heimatgefühl.

Martyna Czarnowska ist Außenpolitik-Redakteurin der „Wiener Zeitung“; zur Zeit karenziert, lebt in Istanbul.

Printausgabe vom Samstag, 06. Juni 2009

 

 

Quelle: Wiener Zeitung

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