Eröffnet wurde das Seminar durch Abdulmesih BarAbraham, Vorsitzender des Kuratoriums der YBY Stiftung, der neben der kurzen Vorstellung der Stiftung auch einen ausführlichen Überblick über das EU Grundtvig Programm gab. Im Rahmen dieses EU-geförderten Programms wird das EPIA-Projekt (Exchanging Best Practices in the Integration of Assyrians in Europe) organisiert, welches den Fokus auf den Austausch von bewährten Praktiken zur Integration der Assyrer in Europa legt und an dem assyrische Organisationen aus Holland, Belgien, Schweden und Deutschland partizipieren. Was die folgenden hochkarätigen Vorträge interessant machte, war, dass alle eingeladenen Referenten ihre Präsentationen mit eigenen authentischen Umfragen und Studien zum Thema der Integration der Assyrer untermauerten.
Der erste Referent, Dr. Andreas Önver Cetrez von der schwedischen Universität Uppsala, zeigte in seinem Vortrag, wie sich ein kollektives Trauma zu einer kollektiven Identität entwickeln und welchen Einfluss ein derartiges Trauma auf die jeweiligen Generationen ausüben kann.
Eine traumatische Erfahrung, wie der Genozid von 1914/15 an den Assyrern, habe starken Einfluss auf alle nachfolgenden Generationen und werde sowohl bewusst als auch unbewusst an die heranwachsende Generation „vererbt“. Selbst in der dritten Generation ließen sich noch dessen Nachwirkungen nachweisen. Gleichzeitig seien die kulturellen Charakteristika, die aus dem Trauma resultierten, entscheidend bei der Entwicklung und Etablierung von Stereotypen und Prototypen. Sowohl die stereotypen Feindbilder als auch die selbst zugeschriebenen positiven Attribute stellten Facetten der assyrischen Kultur dar, die sich in der Diaspora entwickelt hätten.
Nach Dr. Cetrez werde das historische Trauma durch wiederkehrende Traumata, beispielsweise durch die Auswanderung, die Angst vor Assimilation und durch neue Konflikte in der Diaspora, intensiviert. Dies verhindere eine Aufarbeitung und lasse vielmehr eine Kultur der Konflikte entstehen, die ein Öffnen der Gruppe nach außen erschwere.
Nach dieser theoretischen Einführung ging Dr. Yusuf Güney, Psychologe aus Wien, in seinem Vortrag näher auf die intergenerativen Unterschiede ein. Unter dem Titel „Erkenntnisse zu den psychologischen und soziokulturellen Aspekten bei der Integration der assyrischen Migrantengeneration in Österreich“ berichtete Dr. Güney von seiner Umfrage unter Angehörigen der ersten und zweiten Generation in Wien. Dabei definierte er die erste Generation als jene Gruppe von Personen, die ab dem 17. Lebensjahr emigriert sind. Die zweite Generation umfasst sowohl die Personen, welche bis zum Alter von sechs Jahren emigriert sind, als auch diejenigen, deren Eltern beide Migranten und die selbst im Ausland geboren worden sind.
Stichprobenartig hat Dr. Güney zehn assyrische Familien in Wien nach ihren Sprachkenntnissen, ihrer Bildung und beruflichen Stellung sowie nach ihren sozialen Beziehungen befragt. Dabei ist die erste Generation von 19, die zweite Generation von 33 Individuen repräsentiert worden. Die Ergebnisse seiner Umfrage zeigen, dass sich die zweite Generation hinsichtlich der deutschen Sprache, der Wohnverhältnisse, der Bildung und der ausgeübten Berufe im Vergleich zur ersten Generation besser integriert hat. Die sozialen Beziehungen der zweiten Generation erstreckten sich dabei sowohl über die eigene als auch über die Gastgesellschaft. Im Laufe der Zeit ist den Angehörigen der zweiten Generation aber die Muttersprache verloren gegangen.
Diese Diskrepanz im Integrationsprozess sei wiederum Ursache für generationsübergreifende Konflikte und Probleme, so Dr. Güney in seinem Vortrag. Hierbei wies er auf Meinungsverschiedenheiten bezüglich Partnerschaften und Eheschließungen hin, aber auch auf eine Erosion der klassischen Rollenverteilung und der Umgangsformen innerhalb der assyrischen Familien. Eine Selbstentfremdung der ersten Generation und Loyalitätskonflikte auf Seiten der zweiten Generation seien die Folge. Um diese Konflikte zu überwinden, appellierte Dr. Güney am Ende seines Vortrags an beide Generationen, die Bindungen zueinander wieder zu festigen und auch Brücken in die deutsche Aufnahmegesellschaft zu schlagen.
Als nächste Referentin sprach die Ethnologin Christiane Lembert über die Assyrer in Augsburg und das Verständnis von Identität durch Migranten. Nach einer Einführung in die theoretischen Überlegungen zu Integration, Inklusion und Identität stellte Frau Lembert ihre Forschungsergebnisse zu den Assyrern in Augsburg vor. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf die Bedeutung der assyrischen Identität für die zweite und dritte Generation. Dazu hatte sie im Vorfeld mehrere Jugendliche des Mesopotamien Vereins in einem Gespräch befragt. Anhand deren Antworten zeigte Frau Lembert auf, wie die Jugendlichen zwischen 17 und 20 Jahren ihre Identität beispielsweise über ihre Namen, über Symbole und über ihre christliche Konfession definieren und konstruieren. Zudem spiele die Sprache als Kommunikationsmittel zwischen den Generationen und als kulturelles Erbe gleichermaßen eine wichtige Rolle. Aber auch auf nicht sichtbare Kulturmerkmale, wie die soziale Organisation innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Familien, ging Frau Lembert im Verlauf ihres Vortrages ein. Als Fazit hob Sie die Integration und starke Verwurzelung des Mesopotamien Vereins in Augsburg hervor. Den Jugendlichen läge aber für die Zukunft ein größeres Verständnis vonseiten der deutschen Bevölkerung am Herzen. Wichtig sei ihnen unter anderem die Würdigung der kulturellen Leistungen der Assyrer, die Differenzierung zwischen Türken und assyrischen Christen und die Anerkennung des Völkermordes.
Der Referent Kenan Araz, Berater und Soziologe am Integrationszentrum in Köln, machte die Migration und Integration der Assyrer in westeuropäische Länder und deren intergenerative Familienstrukturen zum Thema seines Vortrages.
Zunächst sprach Araz von den politischen, ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Faktoren, die bei den assyrischen Migranten zur Auswanderung aus der jahrhundertealten Heimat geführt hatten. Nach der Herausforderung der Auswanderung stünden die Assyrer nun in der Diaspora vor neuen Problemen, die ihre familiären und generationsübergreifenden Strukturen bedrohten. Auf zwei Aspekte – die Partnerwahl und die intergenerativen Beziehungen – ging Araz im weiteren Verlauf seines Vortrags näher ein. Beide zwischenmenschliche Dimensionen hätten große Aussagekraft über das Eingliederungsverhalten der Minorität. Je nachdem, ob der Partner aus der Aufnahmegesellschaft oder der eigenen Migrantenminorität gewählt werde, entscheide der Heiratende, inwieweit die Beziehungen zur Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten werden. Gleichzeitig würde auch über den Sozialisationsprozess der Kinder entschieden, die aus der Ehe hervorgingen. Immer häufiger, so Araz in seinem Vortrag, unterschieden sich Heiratspartner in ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem ethnisch-kulturellen Hintergrund. Auch für die Zukunft sei zu erwarten, dass assyrische Migranten aus verschiedenen Staaten transnationale Netzwerke aufbauen, die auch als Heiratsmärkte genutzt werden können.
Auch Generationsbeziehungen seien von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Familien ausländischer Herkunft, so Araz weiter. Zum einen sei die Elterngeneration auf die Alterssicherung der jüngeren Generation angewiesen und spiegele damit das Sicherungssystem der Heimat wider. Zum anderen finde zwischen der älteren und der jüngeren Generation ein Lernprozess statt, der für beide Altersgruppen von Vorteil sei. Im Anschluss verteilte Araz eine Umfrage unter den Zuhörern, in der er um die Beantwortung zweier Fragen bat. Die Anwesenden hatten zu notieren, was die ältere Generation ihrer Meinung nach von der jüngeren Generation lernen könne und umgekehrt. Während die drei wichtigsten Antworten auf die erste Frage „die Nutzung der Technik“, „Offenheit und Modernität“ sowie „die deutsche Sprache“ waren, wurden „die assyrische Muttersprache“, „Tradition“ und „die assyrische Kultur“ als die drei wichtigsten Antworten auf die zweite Frage genannt.
Das Seminar endete mit einer zweiten Präsentation von Dr. Cetrez, in der er die intergenerativen Probleme unter den assyrischen Migranten anhand einer eigenen Studie unter Assyrern in Schweden aufzeigte. Seine Ergebnisse untermauerten die bereits aufgezeigten Charakteristika der zweiten und dritten assyrischen Generation, die sich beispielsweise durch ihre soziale Mobilität, ihre Offenheit gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen, aber auch durch eine schwächer ausgeprägte Religiosität auszeichnen.
Im Hinblick auf das Thema des Seminars boten die Vorträge und die anschließende Podiumsdiskussion, die von Söner Önder von der Inanna-Stiftung geleitet wurde, eine sowohl theoretische als auch praktische Sichtweise auf die Probleme und Herausforderungen der assyrischen Migranten in der Diaspora. Spannungen zwischen den Generationen lassen sich auf das kollektive Trauma und den mangelnden Austausch zwischen den Generationen zurückführen. Zudem ist es der ersten Generation nicht möglich, Wege aufzuzeigen, wie der Assimilation zu entgehen ist, da ihr die entsprechenden Erfahrungswerte fehlen. Folglich ist ein Lernprozess notwendig, der allerdings nur unzureichende Verknüpfungen zwischen den Generationen schafft. Auch den religiösen und bürgerlichen Organisationen mangelt es an Strategien, um den intergenerativen Problemen entgegenzuwirken.
Die angesprochenen Probleme haben großen Einfluss auf die soziale, kulturelle und politische Entwicklung der Assyrer. Daher ist es dringend erforderlich, die Bindung zwischen den Generationen wieder zu stärken und den intergenerativen Austausch zu fördern. Nur mit starken Bindungen innerhalb ihrer Volksgruppe ist es den Assyrern möglich, sowohl der Assimilation und dem „kulturellen Genozid“ zu entgehen, als auch ihre Anliegen effektiv nach außen hin zu vertreten.
Miryam Athra Abraham
Studentin der Staatswissenschaften an der Universität Passau
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