Der „Arabische Frühling“

Auswirkungen und Perspektiven für die assyrischen Christen im Nahen Osten

Im Namen der Assyrischen Demokratischen Organisation in Europa möchte ich mich bei der Gesellschaft für Bedrohte Völker und den Mitarbeitenden sehr herzlich für Ihr Engagement für die assyrischen Christen bedanken. Sie sind eine der ersten Organisationen, die seit den 1970er Jahren auf die Lage von religiösen und ethnischen Minderheiten und damit auch auf die Lage der Assyrer in den Herkunftsländern aufmerksam gemacht haben. Sowohl durch zahlreiche Veröffentlichungen als auch durch Veranstaltungen. Mein besonderer Dank geht vor allem an den Vorsitzenden, Herrn Tilman Zülch, der uns seit der Gründung der Organisation begleitet.

Das Volk der christlichen Assyrer lebt gegenwärtig in den Nahoststaaten Irak, Syrien, Türkei, Libanon sowie in den westlichen Ländern und in Übersee. Die Assyrer sind die Nachfahren der Christen im Nahen Orient. Sie gehören verschiedenen christlichen Konfessionen an: syrisch-orthodox, syrisch-katholisch, syrisch-evangelisch, chaldäisch und der assyrischen Kirche des Ostens.

Die Christen im Vorderen Orient führen ihre Existenz auf die altorientalischen Völkerschaften der Assyrer, Chaldäer und Aramäer zurück, die seit Mitte dem 3. Jahrtausend vor Christus in Syrien und Mesopotamien ansässig wurden. Mit dem Aufkommen des modernen Nationalgedankens in Europa des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung nach Asien und Afrika kam es Anfang des 20. Jahrhunderts auch unter den Christen der syrischen Kirchen zu einer nationalen Bewegung. Große Teile der syrischen Christen bezeichnen sich heute als Assyrer, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Konfessionen.
Sie einigt die gemeinsame christliche Religion, gemeinsame Bräuche, die gemeinsame Geschichte und die syrische Sprache in den beiden Dialekten Ostsyrisch und Westsyrisch.

Es muss angemerkt werden, dass das ursprüngliche Mesopotamien schon immer ein Territorium von großem politischem Interesse war und dass die Christen dort meist als Minderheit in einer nichtchristlichen Umgebung lebten. Phasen der Unterdrückung wechselten mit Phasen relativer Sicherheit und Entfaltung ab. Trotz der teilweise massiven Verfolgungen halten die Assyrer an ihrer kulturellen Tradition und Sprache fest. Bis 1915 lebten im mesopotamischen Raum mehrere Millionen Assyrer.

Das 20. Jahrhundert bildet den Höhepunkt der Verfolgung der Assyrer und bedeutet den bisher schwersten Einschnitt in die wechselvolle Geschichte. 500.000 Assyrer fielen zwischen 1895 und 1918 dem gezielten Völkermord des osmanischen Militärs und der kurdischen Stammesführer zum Opfer. Den Höhepunkt der Verfolgung und Vernichtung bilden die Ereignisse des Jahres 1915. Dieses Jahr ging als das „Jahr des Schwertes – shato d´seifo“ in die Erinnerung ein.
Dieser Genozid wird bis heute von der Türkei geleugnet. Öffentliche Äußerungen dazu werden in der Regel gerichtlich verfolgt.

In Deutschland leben ca. 100.000 Assyrer. Die überwiegende Anzahl gehört der Kirche von Antiochien an, ist also syrisch-orthodoxen Glaubens. Diese Assyrer stammen vorwiegend aus der Türkei, aus Südostanatolien und verließen ihre Heimat zunächst im Zuge der Arbeitsmigration (Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei im Jahr 1961). Nach dem Anwerbestopp 1973 stellten sie auf Grund zunehmender religiöser und ethnischer Unterdrückung und Verfolgung Antrag auf Asyl. Die meisten von ihnen besitzen heute die deutsche Staatsbürgerschaft. Viele haben auf Grund der politischen Lage eine Rückkehr in die alte Heimat aufgegeben.

Irak

Die von den Vereinigten Staaten von Amerika und der sog. „Koalition der Willigen“ angeführte Invasion in den Irak 2003 hatte für die Bevölkerung verheerende Auswirkungen. Abgesehen von der großflächigen Zerstörung der Infrastruktur begann eine bis heute andauernde Auseinandersetzung der religiösen und ethnischen Gruppen um Macht und Einfluss. Die assyrische Bevölkerung und andere Minderheiten wie die Yesiden, Mandäer, oder Shabak haben am meisten unter den Folgen des Krieges zu leiden.
Die Zahl der Assyrer ist durch Verfolgung, Entführung und massive Anschläge auf Kirchen von 1,5 Millionen auf weniger als eine Million geschrumpft. Über eine halbe Million Assyrer hat bereits das Land verlassen und täglich werden es mehr. Viele flohen in die Nachbarländer und warten auf eine baldige Rückkehr in der Hoffnung, dass sich die Lage in der Heimat stabilisiert.
Der Abzug der amerikanischen Truppen wird die Situation noch verschärfen. Die irakische Regierung ist bis heute nicht in der Lage, gefestigte politische Strukturen mit einem verlässlichen Sicherheitsapparat zu schaffen. Außerdem werden die Nachbarstaaten mehr Einfluss nehmen. Trotzdem sind wir gegen die Auswanderung der assyrischen Christen aus dem Irak bzw. aus dem ganzen mesopotamischen Raum. Deshalb wünschen wir uns ein breites politisches und soziales Engagement der westlichen Staaten. Auswanderung sollte nicht die erste Lösung sein sondern nur im Notfall eine Ausnahme bilden.

Syrien

Die Assyrische Demokratische Organisation ist eine nationale, politische und demokratische Bewegung. Sie wurde 1957 mit dem Ziel gegründet, die Existenz des christlichen assyrischen Volkes im Nahen Osten in voller Verwirklichung ihrer nationalen Rechte zu bewahren.

Dies ist heute umso mehr geboten. Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten haben die ohnehin prekäre Situation der Assyrer in ihren Heimatländern durch wachsende Repressionen und Mordanschläge verschärft.

In Syrien leben derzeit ca. 3 Millionen Christen – und zwar als eigenständige indigene Volksgruppe. Wir bilden dort eine Minderheit mit eigener Sprache, eigener Kultur und vor allen Dingen leben wir hier in unseren historischen Siedlungsgebieten. Dennoch sind wir in Syrien nur als religiöse bzw. konfessionelle und nicht als ethnische Volksgruppe anerkannt. Das bedeutet, die ADO ist nicht als politische Partei legitimiert. Jegliche eigenständige kulturelle oder politische Betätigung begreift das syrische Regime als eine das System gefährdende Opposition. Die ADO wird vom syrischen Geheimdienst nicht nur aufs schärfste kontrolliert, sondern es wird auch versucht, sie durch Razzien, Übergriffe, willkürliche Verhaftungen und mit Folter systematisch auszumerzen. So verhafteten z.B. im Mai 2011 die syrischen Sicherheitskräfte nach einer friedlichen Demonstration in Qamishly 13 hochrangige Mitglieder der ADO.

Das aktuelle Gesamtbild Syriens stellt sich wie folgt dar: Seit nahezu fünf Jahrzehnten leidet das Land nunmehr unter strukturellen Krisen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und vor allem im Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte.

Das Regime missachtet bürgerliche Freiheiten und Rechte. Es verwehrt den Menschen die Teilnahme am politischen Leben. Damit blockieren die Machthaber sämtliche Wege zu Fortschritt und Entwicklung, die für den Erfolg einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind.

Das syrische Volk hat deshalb die Hoffnung und das Vertrauen in die Fähigkeiten der Regierung auf Reformen und Veränderungen verloren.

Mitte März 2011 hat der sog. „Arabische Frühling“ Syrien erreicht. Unter den oppositionellen Kräften sind auch Assyrer. Sie fordern Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung. Doch man kann zum jetzigen Zeitpunkt keine Prognosen abgeben, in welche Richtung die Machtverhältnisse sich entwickeln und welche Folgen sich für die knapp 3 Millionen Christen ergeben. Die Assyrer sind verunsichert. Sie haben die verheerenden Zustände mit Mordanschlägen gegen Christen im Irak vor Augen. Deshalb verlassen viele von uns das Land. Auf diese Weise blutet das assyrische Volk buchstäblich aus und verliert seinen historischen Platz in der Region.
Die ADO ist seit Jahrzehnten als politische Oppositionspartei tätig. Sie ist ein Mitglied der anerkannten Koalition der „Erklärung von Damaskus für Demokratischen Nationalen Wandel.“
Die Assyrische Demokratische Organisation verfolgt seit ihrer Gründung eine friedliche Kooperation mit dem Ziel einer soliden Reform der Verhältnisse. So ist es bezeichnend, dass 8 Monate nach dem Beginn der Unruhen in der Provinz Hassake, einem Hauptsiedlungsgebiet der Assyrer, ausschließlich friedliche Demonstrationen stattgefunden haben.
Um in der Zukunft für alle Bürger ein friedliches und blühendes Syrien zu gestalten, konzentriert sich ein Teil unserer Bemühungen auf den Aufbau einer säkularen, pluralistischen und demokratischen Struktur auf der Grundlage der Trennung von Staat und Religion

Für uns Assyrer strebt die ADO die verfassungsmäßige Anerkennung als indigene Volksgruppe an. Sie fordert eine Garantie für ihre vollen politischen, nationalen und kulturellen Rechte. Darüber hinaus wünscht die ADO für alle Bürger des Landes die freie Religionsausübung. Sie wehrt sich gegen jegliche Form der Diskriminierung und setzt sich vor allem für die Rechte der Frauen und der Minderheiten im Lande ein.

Die Demokratie und Stabilität des neuen Syriens werden also nur dann verwirklicht sein, wenn sich das Land imstande erweist

  • die Existenz und Rechte der Minderheiten durch eine ausdrückliche Verankerung in der Verfassung zu garantieren
  • die angestrebten Rechte durch klar definierte, effektive Mechanismen in die Praxis umzusetzen und zu schützen
  • und die Minderheiten mit ihren kulturellen Reichtümern einschließlich ihrer Sprachen und spezifischen Fähigkeiten anerkennt und diese fördert.

Issa Hanna

Quelle: ADO

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