Freiheit für die Minderheiten?

Podiumsdiskussion bei der Gesellschaft für bedrohte Völker

Im Rahmen der diesjährigen Jahreshauptversammlung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fand am 26. November eine Podiumsdiskussion über den Wandel in der so genannten arabischen Welt statt. Die Menschen in den arabisch-islamisch dominierten Gesellschaften fordern politische Mitbestimmung und Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Ob die Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien und anderswo mehr Menschen- und Minderheitenrechte mit sich bringen werden, bleibt abzuwarten. Was der Umbruch für die religiösen und ethnischen Minderheiten bedeutet, sollte auf der Veranstaltung thematisiert werden.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Kamal Sido, dem Nahost-Referenten der GfbV. Außer Sido waren noch fünf weitere Teilnehmer anwesend – wie etwa die kurdische Frauenrechtlerin Parvaneh Ghorishi. Die gebürtige Iranerin floh nach ihrem abgeschlossenen Diplom-Studium der Psychologie nach Deutschland und ist hauptsächlich in Frankfurt am Main aktiv. Neben Ghorishi – die für Berivan Aymaz an der Diskussion teilnahm – saß Abidine Ould-Merzough, der Präsident der Initiative zur Abschaffung der Sklaverei in Mauretanien Sektion-Europa. Der gebürtige Mauretanier ist Anti-Sklaverei-Aktivist und kooperiert seit einigen Jahren mit der GfbV, vor allem bei Aktionen und Kampagnen für die Abschaffung der Sklaverei in Mauretanien.
Ein weiterer Gast war der Generalbischof der koptischen Kirche, Anba Damian. Der ehemalige Mediziner wurde in Kairo geboren. Dort absolvierte er sein Medizinstudium. Heute ist er der Leiter des „Klosters der Heiligen Jungfrau Maria und des Heiligen Mauritius“ in Höxter-Brenkhausen.
Zwei weitere Gäste waren ebenfalls anwesend: Dr. Akli Kebaili, der seit vielen Jahren mit der GfbV zusammenarbeitet. Er wurde in der Kabylei in Algerien geboren und ist Koordinator für Masirisch. Er ist zudem in Frankfurt am Main im Amt für multikulturelle Angelegenheiten, im Bereich Antidiskriminierung und Ausländerrecht tätig. Der fünfte Teilnehmer war Hanna Isa, als Vertreter der Assyrian Democratic Organisation (ADO). Er beschäftigt sich mit der Lage der Assyrer in Syrien, im Irak und in der Türkei und arbeitet als Lehrer für arabische und assyrische Sprachen in Augsburg. Er ist in vielen Vereinen aktiv und arbeitet seit vielen Jahren eng mit der GfbV zusammen.

Dr. Kamal Sido leitete die Diskussion mit der Frage nach den „Verlierern des arabischen Frühlings“ ein und nannte sie selbst: Die Minderheiten. Die Frage nach dessen Chancen und dem Ende der syrischen Revolte stellte er im Anschluss direkt an seine Gäste.

Isa Hanna stellte daraufhin heraus, dass die drei Millionen Christen in Syrien zwar als konfessionelle, jedoch nicht als ethnische Volksgruppe anerkannt würden. Seine eigene Organisation ADO würde häufig vom syrischen Geheimdienst bedrängt und sei willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. „Seit fünf Jahrzehnten leiden die Kultur, Wirtschaft und Menschenrechte des Landes“, sagte Hanna. Er forderte – wie die meisten Teilnehmer – die verfassungsmäßige Anerkennung als indigene Volksgruppe, die Gleichberechtigung der Frauen und die freie Religionsausübung in Syrien.

Dr. Kebaili fügte hinzu, dass es ihn störe, wie die Welt in den Westen und die islamische Welt aufgeteilt werde. Die Diktatoren seien erst an die Macht gekommen, nachdem die Kolonialherren die vorhandenen demokratischen Strukturen in den Ländern zerstört und danach verlassen hätten. Er merkte an, dass er als Berber nicht länger als Angehöriger einer Minderheit betrachtet werden wolle, sondern als Gleichberechtigter. Damit die Minderheiten diesen Status erreichen können, sei ist es jedoch nötig, dass sie sich politisch organisieren.
Anba Damian betonte im Anschluss, dass die Christen „im Visier des ägyptischen Innenministeriums“ stünden und ein „anderes Gesicht des Militärs“ erfahren hätten, nachdem er zuerst die Gemeinsamkeiten zwischen den deutschen und ägyptischen Christen darlegte. Das Militär hatte gewaltsame Übergriffe gegen die koptische Kirche zugelassen und nicht eingegriffen.

Das Anfangsplädoyer des Anti-Sklaverei-Aktivisten Ould-Merzough beinhaltete die Darstellung der noch immer existenten Leibeigenschaft in Mauretanien. Dort könnten Menschen immer noch weitervererbt werden – trotz der offiziellen Abschaffung der Sklaverei seit der Unabhängigkeitserklärung. Dennoch konnten –mit Hilfe der GfbV – erstmals Täter auf Grund von Sklaverei verurteilt werden.

Für die Kurdin und Frauenrechtlerin Ghorishi war ihre Teilnahme als einzige Frau symptomatisch für die Rolle der Frau in der „arabischen Welt“. Die Revolutionen seien von Männern geprägt. Die Frauen müssten endlich ihre eigenen Forderungen stellen. „Die Einschränkung der Frau durch die Scharia ist eine der größten Probleme dieser Bewegung“, so Ghorishi.

Nach den anfänglichen Stellungnahmen lenkte Sido das Gespräch weiter auf die Lage in Syrien mit der Frage nach der Rolle der „Free Syrian Army“ und der Christen. Hanna erklärte, dass die Christen immer noch verfolgt würden. Sollte es nicht zu einem friedlichen Machtwechsel kommen, könne es eine ähnliche Entwicklung für die Minderheiten geben, wie sie schon im Irak und in der Türkei zu sehen sei. Die „Tendenzen zum Arabismus“ seien beängstigend für die Christen. Hanna befürchtete sogar die Ausrottung der Christen, sollte der Westen sich nicht an Ort und Stelle für die Minderheiten engagieren.

Zur Lage in Libyen berichtete Kebaili, dass sich die Geschichte für die Berber wiederhole: „Die Berber haben Tripolis befreit und nun wird eine Regierung gegründet, in der sie nicht vertreten sind“. Der Kabyle betonte, dass die Berber das nicht hinnehmen werden.
Zur Lage der Kopten in Ägypten erklärte Bischof Damian, dass die „ehrenvolle Revolution eine islamistische Färbung“ bekomme: Die Islamisten würden nun versuchen, die Macht an sich zu reißen. Damian forderte in diesem Zusammenhang eine klare Trennung zwischen Staat und Religion. Die Kopten selbst sah er als wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft und untrennbar mit Ägypten verbunden. Im Laufe der Diskussion betonte er häufig, dass der Staat Ägypten die „Bekämpfung der Armut, Ignoranz und Krankheiten nicht außer Acht lassen darf“.

Der „arabische Frühling“ hat sich im Laufe des Jahres 2011 von Land zu Land erweitert. Deshalb wollte Kamal Sido wissen, inwiefern sich das auf Mauretanien auswirken könnte. Daraufhin entgegnete der Mauretanier Abidine Ould-Merzough, dass das Land trotz demokratischer Wahlen nie wirklich demokratisch gewesen sei, sondern weiterhin von einer Minderheit regiert werde, die die gesamte Macht besitze. Merzough selbst freut sich allerdings über die positiven Entwicklungen im Nahen Osten und im Norden Afrikas und hoffte, dass sein eigenes Land nun demokratischere Züge erhält, zumal die Regierung kein Geld mehr von ihrem Hauptgeldgeber – dem libyschen Diktator Muammar Al-Ghaddafi – erhalten könne. Allerdings war Merzough im Bezug auf die Zukunft Mauretaniens skeptisch. Die Opposition wolle zwar etwas machen, aber „es sieht schlecht aus“, sagte er.
Daraufhin lenkte Sido das Gespräch auf die Rolle der Türkei im „arabischen Frühling“. An Ghorishi stellte er die Frage, ob „der Oberpascha und islamische Sultan Erdogan“ das Glück nach Syrien bringen könne, und ob die Kurden glücklich in der Türkei wären. Ghorishi verneinte die Frage sofort: „In der Türkei werden Tausende grundlos verhaftet, darunter legitim gewählte Abgeordnete. Das Land gibt den Minderheiten kein Recht auf Sprache, Parlament oder Partei – Wie können sie dort behaupten, die Probleme anderer Länder lösen zu können?“

Im Anschluss stellte Sido die Frage, was die Teilnehmer von der GfbV, der Bundesregierung und der Europäischen Union fordern würden. Hanna Isa entgegnete daraufhin, dass er sich erhoffe, dass mehr westliche Regierungen offen für Minderheiten aussprechen würden. Kebaili ergänzte, dass es nicht „reicht, Diktatoren zu verjagen und Demokratien zu installieren“, sondern dass es notwendig sei, „Strukturen zu installieren, in denen sich Menschen politisch organisieren können.“ Moderator Sido fasste die Forderungen unter den drei Begriffen „Selbstorganisation, Dezentralisierung und Autonomie“ zusammen. Bischof Damian forderte daraufhin, dass die „Situation nicht mehr mit Samthandschuhen“ angefasst werden solle. Abidine Ould-Merzough untermalte, dass in Zukunft Entwicklungshilfe direkt mit Menschenrechten verknüpft werden müsse und dabei die Demokratie und nicht etwa wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen dürften. Der Schlüssel zur Entwicklung einer Gesellschaft liege in seiner Meinung nach in der Frage der Bildung. Wenn die Menschen ein gewisses Bildungsniveau erreichen würden, würden sie nicht mehr jenen folgen, die die Scharia einführen wollen.

Von Parvaneh Ghorishi wollte Sido im Anschluss konkret wissen, ob den im Westen herrschenden Meinungen entsprechend ein sunnitischer Islamismus moderater wäre als ein schiitischer. Sie antwortete mit der generellen Aussage, dass Religion privat bleiben solle und nichts mit dem Staat zu tun habe. Im Einklang mit Merzough betonte sie die Bedeutung der Bildung in diesen Ländern. Das Problem sei allerdings, dass in diesen Ländern die Regierungen Jahre damit verbracht hätten, demokratische Strukturen zu zerstören. Schlussendlich forderte Ghorishi eine Art Ratingagentur für Demokratie in den verschiedenen Ländern. Sollten gewisse Regeln nicht eingehalten werden, sollten die Staaten herabgestuft werden.

Im Zuge der Fragerunde äußerte sich Ghorishi noch zu der Rolle der Kurden in Deutschland. Sie kritisierte, dass in deutschen Medien immer nur von 3 Millionen Türken die Rede ist, dass die Gruppe nicht als Minderheit existiere und keine Minderheitsrechte habe.

Sido fasste zusammen, dass Deutschland keinen Vermittler für die Kommunikation mit den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens während und nach den Revolutionen brauche, da sie selbst dazu in der Lage wären mit ihnen zu kommunizieren. Deutschland hätte genügend eigene Mitbürger, die aus den entsprechenden Ländern stammen würden und somit die Kommunikation erleichtern würden. Als potenzieller Vermittler würde international häufig die Türkei gesehen. Daraufhin fragte Sido Bischof Damian, woher die „neue Liebe“ Europas und der USA zu den Islamisten komme, obwohl sie doch auch vor ihnen warnt. Damian entgegnete, dass er nicht wüsste, ob die Islamisten unterstützt würden, aber er kritisierte die so genannten „Interessenskonflikte“ der Politiker und hinterfragte, inwiefern sie dies mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten.

Im Verlauf der Fragerunde fragte Sido Damian erneut, wie die Lage sei, wenn Muslime in einem christlichen Land unterdrückt würden. „Wir reden hier nicht über Christenrechte, sondern Menschenrechte“, sagt Damian. In seinem Kloster in Höxter gewährten sie Menschen Zuflucht, die sie benötigten, unabhängig von ihrer Konfession.

Abidine Ould-Merzough betonte Fälle des Missbrauchs von Religion, wie beispielsweise die Sklaverei in seinem Land: Dort gelte es als „gottgegeben“, dass Menschen anderen gehören. Die Al-Kaida sei auch ein Fall des Missbrauchs der Religion, so Merzough. Ghorishi fragte sich in diesem Zusammenhang, warum es überhaupt Kriege zwischen den Religionen gegeben habe. Trotz der Verbrechen, die die Kirche im Verlauf der Geschichte begangen habe, habe sie es geschafft „sich dem Zeitgeist anzupassen. Das gab es im Islam nicht“, so Ghorishi.

In den finalen Plädoyers sagte Hanna Isa über Syrien: „Drei Punkte sind nötig, damit in dem Land Demokratie und Stabilität entsteht: „Die Existenz und Rechte der Minderheiten müssen in der Verfassung verankert sein, Effektive Mechanismen müssen geschaffen werden, die die Minderheitenrechte in Praxis umsetzen“. Akli Kebaili betonte, dass das Berber-Volk, dem er angehört, bereit sei, mit allen zusammenzuarbeiten und das eigene Land entwickeln wolle. Er warnte vor dem Missbrauch der Bildung und damit der Vermittlung falscher Informationen.
Schlussendlich gab Bischof Damian eine Prognose über die Christen in Ägypten ab: Sie seien sich ihrer politischen Verantwortung bewusst, hätten keine Angst mehr und eine ausgeprägte Identität. Damian äußerte außerdem, dass er Hoffnung für die Zukunft habe.

Sido beendete daraufhin die Diskussion mit einem Zitat von Mahatma Ghandi. „Jede Zivilisation ist daran zu messen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht“. In diesem Sinne würde man die Entwicklung in Nordafrika und im Nahen Osten weiter beobachten.

Kamal Sido

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