Der französische Archäologe Jacques de Morgan traute seinen Augen kaum, als er im Winter 1901/02 auf der Akropolis der Stadt Susa in Südwestiran den Spaten ansetzte. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn er in der uralten Hauptstadt des Reiches Elam, des Nachbarn und Erzrivalen Babylons, elamische Paläste und Tempel, elamische Statuen und Gefäße der Erde entrissen hätte. Doch nun das: eine babylonische Landschenkungsurkunde nach der anderen, jeweils auf großen, mit Reliefs verzierten Stelen (babylonisch kudurru) niedergelegt; eine Stele, die den legendären König Naram-Sin von Akkad zeigt, wie er mit seinen Mannen gegen Zipfelmützen tragende Lullubäer kämpft; Statuen mesopotamischer Könige; schließlich drei Bruchstücke einer gewaltigen, schwarzen Basaltstele, die zusammengesetzt ein 2,25 Meter hohes Monument ergaben! Die Spitze dieses Monuments war von einem Relief bekrönt, während der gesamte Unterteil über und über mit babylonischer Keilschrift bedeckt war, die nicht wie üblich von links nach rechts zu lesen war, sondern in altertümlicher Weise wie Chinesisch von oben nach unten.
Das Rätsel, wie all das nach Elam gelangt war, löste sich, als man die quer über die Naram-Sin-Stele gemeißelte Keilinschrift übersetzte. Im 12. Jahrhundert v.Chr. hatte der elamische König Schutruk-Nahhunte mit seinem Kriegsheer Babylonien überrollt und der Jahrhunderte regierenden Kassitendynastie den Todesstoß versetzt. Bei der Heimkehr dürfte mancher elamische Soldat gehörig geschwitzt und geflucht haben. Denn Schutruk-Nahhunte ließ alles, was nicht niet- und nagelfest war – und sei es auch tonnenschwer –, aus babylonischen Palästen, Tempeln und Marktplätzen mitgehen und in seinem heimatlichen Palast in Susa aufstellen, nachdem er es zum Teil mit eigenen, ihn selbst rühmenden Inschriften versehen hatte.
Jedes der babylonischen Fundstücke auf fremdem Boden war hoch interessant, die Basaltstele jedoch war eine Sensation. Denn der Keilschrifttext offenbarte sich dem keilschriftkundigen Bearbeiter, Pater Vincent Scheil, Professor an der École pratique des Hautes Études in Paris, als der bis dahin mit Abstand älteste bekannte Gesetzestext der Welt und einer der umfangreichsten der Antike: der Kodex Hammurapi.
Nach der Entdeckung des Kodex brütete Scheil Tag und Nacht über der Edition. Bereits 1902 erschien aus seiner Feder der vierte Band der „Mémoires de la Délégation en Perse“, der offiziellen Publikationsreihe der französischen Ausgrabungen in Persien, in dem er auf 151 Seiten eine Transkription und französische Übersetzung des Textes vorlegte. Die Einleitung lässt uns an der Begeisterung Scheils teilhaben: „Seitdem das Zeitalter der Ausgrabungen eröffnet worden ist, ist weder in Ägypten noch in Assyrien noch in Babylonien, um nur die wichtigsten Forschungsfelder zu nennen, ein aufgrund seiner moralischen Tragweite und seines umfassenden Inhalts bedeutsameres Dokument ans Licht befördert worden als der Kodex der Gesetze des Hammurabi … Ohne Zögern können wir sagen, dass der Kodex Hammurabi eines der wichtigsten Monumente ist, nicht nur für die Geschichte der Völker im Orient, sondern auch für die Universalgeschichte.“ Die Veröffentlichung zog schnell eine Flut rechtshistorischer Studien nach sich. Auch die Erforschung der babylonischen Sprache wurde auf eine neue Grundlage gestellt, denn von nun an sah die Altorientalistik die Sprache des Kodex Hammurapi als normativ für die Grammatik des Babylonischen an…
Welchem Zweck diente der Kodex?
Immer wieder haben der Kodex Hammurapi und die anderen altorientalischen Gesetzessammlungen in der Forschung drei miteinander zusammenhängenden Fragen aufgeworfen: Wie sind die Gesetze entstanden? Zu welchem Zweck wurden sie verfasst und aufgeschrieben? Wurden sie in der Praxis auch angewandt?
Die erste Frage hat man oft dahin gehend beantwortet, dass ursprünglich richterliche Einzelentscheidungen verallgemeinert in den Gesetzestext eingegangen seien. Allerdings läs sich auch beobachten, dass der Kodex Hammurapi Gesetze fast wortwörtlich aus der vorrangehenden Tradition der Kodizes übernimmt.
Einige Forscher haben in den Kodizes nur Propaganda der Könige gesehen, die sich als Hüter des Rechts hätten zeigen wollen. Dies wollten sie daraus schließen, dass die Kodizes nicht das gesamte Gebiet des Rechts, wie wir es aus der Praxis kennen, aufzeichneten und dass sie in rechtspraktischen Texten nie erwähnt sind. Jedoch schließt die propagandistische Wirkung der Kodizes die Absicht, tatsächlich geltendes Recht zu stiften, nicht aus. Die Beobachtung, dass wir Gesetzeskodizes immer von Herrschern kennen, die zuvor ein größeres Reichsgebiet unter ihrem Zepter vereint hatten, lässt viel mehr vermuten, dass die schriftlich veröffentlichten Gesetze der Absicht dienten, die vielen lokalen Gewohnheitsrechte in den strittigen Punkten zu vereinheitlichen. Dagegen wurde der Großteil des Gewohnheitsrechts nur mündlich überliefert und nie aufgeschrieben. Auch die Sprache der Gesetze weist auf die Absicht des Gesetzgebers hin, effektives Recht zu schaffen; denn im Unterschied zum Prolog und Epilog des Kodex Hammurapi, die in einer literarischen Sprache abgefasst sind, sind die Gesetze selbst im üblichen, in der Verwaltung verwandten Schriftbabylonisch gehalten, wie wir es auch in Briefen, Rechts- und Verwaltungsurkunden finden. Bei einem rein propagandistischen Text wäre dies schwer erklärbar.
Schließlich ist es zwar richtig, dass bisher kein einziger Text gefunden wurde, in dem eine richterliche Entscheidung mit Paragraph xy des Kodex Hammurapi begründet wurde. Doch gibt es aus Babylonien und Assyrien verschiedentlich Hinweise auf nicht näher bezeichnete „Stelen“ (narum), die für Rechtsfragen konsultiert wurden. Wir gehen kaum fehl in der Annahme, dass das Monument Hammurapis eine dieser Stelen gewesen ist. So dürfen wir davon ausgehen, dass der Kodex Hammurapi und die anderen babylonischen und sumerischen Gesetze tatsächlich großartige Beispiele für das Recht im Alten Orient sind.
Verfasst von Prof. Dr. Michael Streck.
Der Artikel erschien in der Ausgabe Juli 2008 40. Jahrgang 7/2008 der historischen Fachzeitschrift DAMALS
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