Michaela Koller
So beschreibt Sabri Alkan von der Assyrischen Demokratischen Organisation in Deutschland die Situation in seinem Herkunftsland. Seine Vereinigung setzt sich für Volksgruppenrechte der Assyrer, die aramäisch sprechenden Christen, im Nahen Osten ein. Unter allen Christen in der Türkei haben es die Christen in Südostanatolien besonders schwer. Seit 1984 befindet sich das Gebiet im Ausnahmezustand. Die Christen werden dort bei den Kämpfen zwischen Türken und Kurden aufgerieben. Insgesamt leben in der Türkei ungefähr 100 000 Menschen unterschiedlichen christlichen Bekenntnisses. Die meisten Christen in Südostanatolien sind syrisch-orthodox. Ihre Kirche hat sich im fünften Jahrhundert von der byzantinischen abgespalten. Die syrisch-orthodoxe Kirche erstreckte sich einst bis nach Indien und China. Viele Völker bekannten sich zu dieser Konfession.
Die Angehörigen der anderen syrischen Konfessionen bezeichnen sich vielfach als assyrische Christen. Sie betrachten sich nicht als übernationale Religionsgemeinschaft, sondern als Volksgruppe. Dieses Selbstverständnis hat auch eine andere politische Dimension: Die assyrischen Christen fordern nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch Volksgruppenrechte. Die Christen in Südostanatolien sprechen zudem nicht türkisch, sondern aramäisch. Diese Tatsache legitimiert die Forderung, sie als Minderheit zu schützen. Die Christen, die sich als assyrisch bezeichnen, betrachten sich seit Beginn einer nationalen Renaissance-Bewegung im 19. Jahrhundert als Nachfahren der Assyrer aus dem alten Mesopotamien.
Alle christlichen Konfessionen haben einen relativ schwachen rechtlichen und einen schwierigen gesellschaftlichen Status. Die rechtliche Situation ergibt sich aus der türkischen Verfassung, wo es in Artikel 2 heißt: „Dem ethnischen und kulturellen Anderssein steht das kemalistische Nationenkonzept rechtlich und faktisch ablehnend gegenüber. Es schreibt die nationale und kulturelle Homogenität vor.“ Das kemalistische Nationenkonzept ist vergleichbar dem romanischen Nationenbegriff. Er besagt, dass jeder türkische Staatsbürger Türke ist, egal ob er sich als Kurde, Armenier oder Assyrer versteht, egal, ob er überhaupt türkisch spricht. Die türkische Verfassung kennt keine Minderheiten.
Aus dem strengen Staatsnationenbegriff ergeben sich für die Christen in der Türkei bisweilen erhebliche Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit. Die Verbreitung der Bibel steht ebenso unter Strafe wie der Neubau von Kirchen. Seit der osmanischen Zeit dürfen generell Kirchen nur mit einer besonderen Genehmigung renoviert werden. So sind die bestehenden Kirchen oft vom Zerfall bedroht. Es kommt immer wieder vor, dass Kirchen und christliche Friedhöfe vom Staat konfisziert werden. Sie werden zu Märkten oder Freizeiteinrichtungen wie Kinos und Billardhallen umgebaut. In der letzten Zeit sind auch häufiger Übergriffe auf kirchliche Einrichtungen in der gesamten Türkei, unter anderem auch in Istanbul, bekannt geworden. Das Ökumenische Patriarchat ist in den vergangenen vier Jahren insgesamt schon dreimal Ziel von Anschlägen geworden. Anfang Dezember vorigen Jahres explodierte im Garten des Bischofssitzes eine Splitterbombe. Die Explosion verletzte einen Mitarbeiter von Patriarch Bartholomaios I. Am 13. Januar dieses Jahres zerstörten mutmaßliche islamistische Terroristen die kleine orthodoxe Kirche Haghios Therapon in Istanbul. Die Täter erschlugen zunächst den Küster der Gemeinde, zerstörten daraufhin die Gerätschaften in dem Gotteshaus und zündeten es dann an. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen haben die Christen keine Möglichkeit, nach Brandschatzungen Reparaturen vorzunehmen. Nach einem solchen Angriff muss das jeweilige Kirchengebäude aufgegeben werden.
Die Weitergabe des christlichen Glaubens an die eigenen Nachfahren ist auch eingeschränkt. Von den religiösen Minderheiten dürfen nur Armenier, Griechen und Juden ihre Religion, den armenisch- oder griechisch-orthodoxen Glauben oder das Judentum, in eigenen privaten Schulen an ihre Nachfahren weitergeben. Den syrisch-orthodoxen Christen, den mit Rom unierten chaldäischen Christen, den syrischen Katholiken und den syrisch-evangelischen Gemeinden bleiben eigene Schulen gesetzlich versagt. Die syrischen Christen dürfen die aramäische Sprache nicht in den staatlichen Schulen benutzen. Da sie ja keine eigenen privaten Schulen führen dürfen, blieb ihnen bisher nur der Religionsunterricht in zwei Klöstern in Südostanatolien: das Kloster Mar Gabriel und das Kloster Deir-es-Safaran. Beide liegen im Gebiet des Tur Abdin, das übersetzt Berg der Gottesknechte heißt. Die Klöster sind die beiden letzten Stätten, an denen die Christen die syrisch-orthodoxe Kirchensprache, einen Dialekt des Aramäischen, lernen können. Beide Einrichtungen bestehen seit dem vierten Jahrhundert und werden von etwa einem Dutzend Mönchen und Nonnen aufrechterhalten. Sie unterhalten beide auch Internate. Die Geistlichen bieten in den Klöstern zudem Gästezimmer an, die eine ganz besondere Funktion haben: Christen aus der Umgebung, die Morddrohungen erhalten, finden dort Unterschlupf. Im Gästehaus begegnen sich zudem Angehörige verschiedener christlicher Konfessionen. Jedoch hat der zuständige Gouverneur der nahe gelegenen Provinzstadt Mardin, Fikret Guven, im vorigen November den Gästebetrieb verboten. Zugleich verfügte er, dass auch der Religions- und Sprachunterricht sowie überhaupt die Internatsführung eingestellt werden müssen. Er hatte festgestellt, dass dies alles gegen türkisches Gesetz verstoße. So bleibt jungen syrischen Christen die letzte Möglichkeit versagt, ihre Kirchensprache zu lernen. Assyrische und syrisch-orthodoxe Bücher und Zeitschriften sind ohnehin verboten. Auch Priesterseminare in dieser Region ließ der türkische Staat schließen.
Die rechtlichen Benachteiligungen bergen für die religiöse und kulturelle Identität der Christen eine Gefahr; die Kämpfe zwischen Türken und Kurden bedeuten für die Christen aber Lebensgefahr. Sie werden dabei aufgerieben: Zwischen Juni 1987 und September 1997 sind 35 Christen ermordet worden. Die Täter kommen aus drei Gruppen: dem türkischen Militär, der PKK und der HesbAllah, der sogenannten Partei Gottes.
Auf der einen Seite verdächtigt die Armee die Christen, die sich aus dem Kampf gegen die PKK heraushalten, in einzelnen Fällen der Kollaboration mit den kurdischen Terroristen. Die Christen verhalten sich aber neutral. Einzelne christliche junge Männer werden aber gezwungen, in der Armee zu kämpfen. Bei der Aufnahme werden sie genötigt, sich beschneiden zu lassen. Das Militär ernennt in jeder Ortschaft einen Dorfwächter, der Muslim ist. Niemand übernimmt dieses Amt freiwillig: Die Armee bestimmt, wer es ausübt, meist auch gegen den Willen des Ernannten. Die Wächter haben einen schlechten Ruf, weil sie häufig ihre Machtposition missbrauchen. Das Amt ist auch deshalb so unbeliebt, weil Dorfbewohner den Wachmännern mit Misstrauen begegnen. Meistens sind die Christen Opfer, wenn die Sheriffs ungesetzlich oder willkürlich handeln. Sie durchsuchen ihre Häuser und plündern sie.
Auf der anderen Seite möchte die PKK die Christen dazu bringen, auf ihrer Seite den türkischen Staat zu bekämpfen. Die terroristische Organisation erpresst Schutzgelder von den Christen: Sie fordern außer Geld mitunter auch Nahrungsmittel und sogar Waffen für die Versorgung der Kämpfer. Eine Woche vor Ostern überfiel die PKK das Dorf Harabale, wo Christen leben. Sie erpressten die Bewohner um Lebensmittel. Als sich ein Mann weigerte, fesselten sie ihn und drohten, ihn zu foltern. Er schrie laut um Hilfe. Die Nachbarschaft reagierte und versuchte, den Mann freizupressen: Sie setzte die PKK-Rebellen ihrerseits mit der Drohung unter Druck, das türkische Militär zu rufen. Der Mann hatte Glück im Unglück: Die Kurden wurden vorsichtig und zogen wieder ab. In der Vergangenheit sind Christen auch schon ermordet worden, wenn sie nicht nachgaben. Religiöse Motive spielen bei den Überfällen wahrscheinlich auch eine Rolle: Obwohl die PKK sonst Religion und Politik voneinander trennt, bezeichnet sie, wie auch die türkische Armee, die Christen als „Ungläubige“ oder „Unreine“.
Aus religiösen Gründen verfolgt sie aber erst recht die HesbAllah, die selbsternannte Partei Gottes. Sie wollen die „Ungläubigen“ aus dem Südosten der Türkei entfernen. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Sie versuchen, die Andersgläubigen mit offenen Drohungen und öffentlichen Beleidigungen zu vertreiben, oder sie bringen sie um. Das Ehepaar Rehane und Iskender Araz, beide über siebzig Jahre alt, wurde Ende vorigen Septembers Opfer der islamischen Extremisten. Das Ehepaar hatte sich geweigert, das Dorf zu verlassen und zu seinen Kindern ins Ausland zu ziehen. Daraufhin wurden beide in ihrem Dorf östlich der Stadt Midyat durch Kopfschüsse niedergestreckt.
Wegen des Drucks von allen Seiten wanderten syrische Christen aus dem Tur Abdin zu Zehntausenden aus: in den Westen der Türkei, nach Syrien, in die USA, aber auch viele nach Europa. In den sechziger Jahren lebten dort noch siebzigtausend Christen, derzeit sind es nunmehr weniger als dreitausend. Inzwischen ist die innerstaatliche Fluchtmöglichkeit nicht mehr gegeben. Die Christen vom Berg der Gottesknechte, die einen aramäisch-syrischen Dialekt sprechen, können sich woanders in der Türkei keine menschenwürdige Existenz aufbauen. Nahezu allen fehlen die türkischen Sprachkenntnisse und die gefragten beruflichen Qualifikationen. Nur wenige haben in den großen Zentren im Westen der Türkei Verwandte, die ihnen helfen können. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof urteilte bereits am 14. August 1995 (Aktenzeichen: 12 UE 2496/94): „Syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin steht in den übrigen Gebieten der Türkei, insbesondere in Istanbul, keine interne Fluchtalternative mehr zur Verfügung, da ihnen dort eine existentielle Gefährdung droht, die so in ihrer Heimat nicht bestünde.“
In Europa leben inzwischen nach Angaben der Assyrischen Demokratischen Organisation 267 500 syrische Christen unterschiedlicher Konfession, davon siebzigtausend in Deutschland, zehntausend in Österreich und fünftausend in der Schweiz. Weltweit leben weit über drei Millionen von ihnen im Exil. Einige der syrischen Christen sind ab den sechziger Jahren nach Deutschland gekommen, um hier zu arbeiten. Viele sind jedoch Flüchtlinge. Ihre Integration und die Sicherung ihrer Existenz sind für die Zielländer kostspielig. Die politische Verantwortung für die Flucht trägt der türkische Staat, der keine Minderheitenrechte kennt und die Freiheit der Religionen einschränkt. Der türkische Ministerpräsident Yilmaz lässt zu, dass die Christen seines Landes in die Europäische Union fliehen, die er als Christenclub bezeichnet hat.
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