von Abdulmesih BarAbraham
„Christenverfolgung ist kein Phänomen aus Neros Zeiten, sondern eine Realität heute.“ Mit diesen Worten eröffnete der Moderator des Forums Dr. Robert Schmucker, wissenschaftlicher Referent und stellvertretender Leiter des Akademischen Forums , die Vorträge und stellte den Referenten Prof. Suermann vor. Prof. Suermann ist seit 1988 für das Missionswissenschaftliche Institut Missio und missio in Aachen tätig und leitet gegenwärtig als Direktor das Missionswissenschaftliche Institut. Daneben war er Auditor der Sonderversammlung der Bischofsynode für den Nahen Osten und lehrt an der Universität Bonn.
Geschichte der Christen im Nahen Osten
In seinem ersten Vortrag skizzierte Prof. Suermann das Bild der Christen im Koran und erläuterte den Grundstatus der Dhimmis, der so genannten Schutzbefohlene des Islams, wie Christen definiert werden. Dieser beschreibt im Grunde einen Status von Bürgern zweiter Klasse, geprägt von Demütigung und Unterwürfigkeit. Interessant war Eingangs seine Aussage, wonach zu Beginn des Islams Muhammad noch viel Sympathie und Wohlwollen den Christen gegenüber hegte. Doch gegen Ende seines Lebens änderte Mohammed offensichtlich aus politischen Gründen seine Haltung gegenüber den Christen. Denn, „um die Vorherrschaft des Islam auf der arabischen Halbinsel sicherzustellen, sollten Christen wie auch Juden unterworfen werden und dem Schutz der islamischen Gemeinschaft unterstellt werden“, ergänzte Prof. Suermann. Als Anhänger einer Buchreligion wurden Christen in der Anfangsphase des Islams nicht vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder getötet zu werden. Prof. Suermann zitierte einige Suren aus dem Koran, die belegen sollen, dass Muslime den gleichen Glauben an Maria und Jesus mit den Christen teilten. Anhand weiterer Suren erläuterte er die Haltung des Korans, da dieser die Basis für den Dhimmi-Status der Christen bildet. Unterwerfungsverträge, die zum Teil schon zu Muhammads Zeiten geschlossen wurden, regeln bis heute die Unterwerfung und die Rechte der Christen. Schon im Jahre „631 erhielten die Christen von Nadschran einen Schutzvertrag von Muhammad und sie durften ihre Religion weiter ausüben, wenn sie einen Tribut zahlen,“ berichtete Prof. Suermann.
Ihm zufolge sei der bekannteste und am meisten erwähnte Schutzvertrag der des Kalifen Umar (633-644 n. Chr.). Die meisten späteren Schutzverträge würden die darin aufgelisteten Bestimmungen mit Ergänzungen aufnehmen. Die wesentlichen Punkte aus diesen Schutzverträgen und anderen islamischen Bestimmungen, die in vielen islamischen Staaten bis heute angewandt werden, sind demnach:
- Die Christen dürfen ihre Religion ausüben, aber nur innerhalb ihrer Kultgebäude, damit das Überlegenheitsgefühl der Muslime nicht gestört wird.
- Ein Schutzbefohlener darf keine muslimische Frau heiraten, wohl aber umgekehrt.
- Die verschiedenen Konfessionen haben ihre eigene Gerichtsbarkeit. Betrifft aber ein Streitfall die staatliche Ordnung oder verschiedene Religionsgemeinschaften, ist der muslimische Richter zuständig, der nach islamischen Recht richten muss. Ein Zeugnis eines Schutzbefohlenen gilt als wenig aussagekräftig und darf nicht gegen Muslime angenommen werden. In Strafsachen gilt die Ungleichwertigkeit von Muslimen und Schutzbefohlenen wie auch von Frauen.
- Das islamische Handelsrecht garantiert das Eigentum und die Handelsfreiheit der Schutzbefohlenen. Die Gültigkeit und Verbindlichkeit ihrer Geschäftsverträge mit Muslimen darf nicht angezweifelt werden.
- Im politischen Bereich dürfen Schutzbefohlenen keine wichtigen Ämter mit Macht ausüben.
- Christen dürfen ihre Bräuche, Schweinefleisch zu essen und Alkohol zu trinken, beibehalten.
- Sie müssen andererseits eine bestimmte Steuer Djizya zahlen und dürfen keinen Militärdienst leisten.
- Sie dürfen nicht missionieren. Die Konversion eines Muslims ist verboten.
- Es dürfen keine neue Kirchen gebaut, oft auch alte nicht repariert und renoviert werden.
Die Eroberung weiter Teile des Nahen Ostens, der zu jener Zeit überwiegend christlich geprägt war, und Nordafrikas brachte viele Christen unter die islamische Herrschaft. Nach Prof. Suermann entwickelte sich das Los der Christen im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich. Es kam zu „harten Verfolgungen und Unterdrückungen, aber es gab auch immer wieder friedliche, auf das Zusammenleben ausgerichtete Zeiten, in denen Christen fast alle gesellschaftlichen Positionen einnehmen konnten“, ergänzte er. Zeitweise wurden die oben aufgelisteten Verbote auch wieder ausgesetzt.
Während einige zeitgenössische Chroniken die islamischen Eroberungen als apokalyptisch beschreiben würden, gibt es wohl auch Schilderungen vom Gegenteil. Insbesondere „die frühe Zeit der arabischen Herrschaft wird als eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte geschildert, in der auch neue Kirchen und Klöster gebaut wurden“, betonte der Referent. Christliche Chroniken würden z.B. von einer Blütezeit unter der Ummayaden-Herrschaft berichten, in der auch Frieden herrschte.
Erst ab dem Jahr 690 sei es zu einer zunehmenden Islamisierung der Gesellschaft und der Arabisierung der Verwaltung gekommen. Als Indikatoren erwähnte Prof. Suermann die Prägung von arabischen Münzen, den Bau des Felsendom am Platz des früheren jüdischen Tempel in Jerusalem, sowie die Einführung des Arabischen als Verwaltungssprache.
Gegen Ende der Herrschaftszeit der Ummayaden um das Jahr 750 n. Chr. sei es in Ägypten zu den ersten großen Aufständen gegen die islamische Herrschaft gekommen. Prof. Suermann betonte, dass auch „die Muslime Ägypten ebenso ausgebeuteten wie zuvor die Byzantiner“. So gab es einen Aufstand der Bauern, die noch praktisch alle Christen waren. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Bauern durften nicht mehr ihr Land verlassen, um so der Steuerlast zu entgehen.
Im Jahre 750 n. Chr. löste die Abbasiden-Herrschaft die Ummayaden ab, deren Hauptstadt Bagdad war. Sie vertraten eine neue Ideologie, die auf Toleranz und Vernunft basierte, und starteten große kulturelle Anstrengungen, etablierten berühmte Übersetzer-Schulen, in denen Christen durch Übersetzung der griechischen Werke Wissen weitergaben. Dennoch blieben wichtige Posten den Muslimen als Herrscher vorbehalten.
Der Referent bezeichnete das Jahr 1100 n. Chr. als das Ende der rationalistischen Phase im Islam, die einher ging mit der Verschärfung des Dhimmi-Status und der Durchsetzung weiterer Gesetze für die Christen als Schutzbefohlene. Die Phase der Kreuzzüge vom Jahr 1095 bis ins 13. Jahrhundert war zudem gekennzeichnet von blutigen Auseinandersetzungen, unter denen auch die Christen im Nahen Osten litten. Im Laufe der Zeit „konvertierten jedoch immer mehr Christen aus theologischen, gesellschaftlichen oder auch finanziellen Gründen zum Islam“, so dass die Zahl der Christen stetig sank.
Prof. Suermann ging in seiner historischen Skizze auf die Zeit im osmanischen Reich ein; demnach wurden die Bestimmungen der Scharia für die Dhimmis unter osmanischer Herrschaft rigoros angewandt und den Christen wurden neue Lasten auferlegt. Als Beispiel erwähnte er, wie der Nachwuchs der Janitscharen, einer Elitegruppe, welche die Leibwache des Sultans stellte und deren Mitglieder höchste Positionen im osmanischen Staatswesen erreichten, durch Raub von christlichen Jungen sichergestellt wurde. Die geraubten Kinder wurden „von Angehörigen eines nach dem Hadschi Bektasch benannten Derwisch-Ordens zu fanatischen Muslimen erzogen, um sie dann ihren neuen, ebenfalls einem Orden gleichenden Einheit einzugliedern“, sagte Prof. Suermann.
Unter osmanischer Herrschaft kam es zu einer strikten Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Das sogenannte Millet-System separierte die Christen weitgehend von den Muslimen – eine Trennung, die sich übrigens bis heute in der Türkei wiederfindet. Nach dem Millet-System durften die Kirchen ihre inneren Angelegenheiten wie Erbschaft, Heirat etc. selbst regeln. Durch diese strikte Trennung gab es weniger Konversionen zum Islam. Als Beleg dafür verwies Prof. Suermann auf den Fakt, dass aufgrund der im Allgemeinen besseren ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Situation sogar der Anteil der Christen an der Bevölkerung von etwa 7% auf 20% wuchs. Das griechisch-orthodoxe Patriarchat (neben Juden) war das erste, das im osmanischen Reich als Millet anerkannt wurden, kurz danach wurden die Armenier als solche anerkannt; danach folgten Katholiken, Kopten, Syrische Christen und die Protestanten.
Nach Prof. Suermann wirkte sich das Millet-System auf das Selbstverständnis der Christen aus: „In einer kirchlichen Struktur, in der das geistliche Oberhaupt einer Kirche auch dem weltlichen Oberhaupt, dem Sultan verantwortlich wurde, kam es immer mehr zu einem ethnischen Selbstverständnis der Kirchen. Sie verstanden sich als ein Volk oder eine Nation.“
Gegen Ende des osmanischen Reiches kam es zu Versuchen, eine Gleichstellung der Christen zu erreichen, allerdings ohne Erfolg. Die Jungtürken hatten versucht, eine parlamentarisch-konstitutionelle Regierung zu errichten, die auch die Autonomie und Mitbestimmungsbestrebungen der Christen berücksichtigen wollte. Die stieß bei den intellektuellen auf eine positive Resonanz. Jedoch scheiterte die Revolution letztlich.
Der Referent schloss mit den Bemerkungen, dass mit der Zerfallserscheinung im 19. Jahrhundert im osmanischen Reich auch eine arabische Nationalbewegung entstand, denn die arabischen Völker wollten sich ebenso von der osmanischen Herrschaft befreien. Bemerkenswert ist, dass an dieser arabischen Erweckungs-bewegung Christen überproportional beteiligt waren. Doch jegliche Hoffnungen, dass in einem arabischen Nationalstaat Christen gleichberechtigt sein würden und der Islam nicht mehr der Maßstab für die Stellung der Christen sein würde, wurden aber nicht erfüllt. Die Phase des 1. Weltkrieges ist vom Völkermord (Genozid) an den Christen (Armenier, Assyrer) im osmanischen Reich gekennzeichnet. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs, den auch die Osmanen verloren, zerfiel das Reich. Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, rief am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei aus, die bis heute den Genozid leugnet.
Aktuelle Lage der Christen im Nahen Osten
Das zweite Referat begann Prof. Suermann mit Begriffserklärungen und deren Erläuterungen, die im deutschen Sprachraum in diesem Zusammenhang häufig auftreten, wie Diskriminierung, Schikane und Verfolgung. Demgegenüber stellte er äquivalente Begriffe des englischen Sprachraums wie „discrimination“, „harassment“ und „persecution“ und plädierte für eine präzise Terminologie. Im Weiteren ging er auf die Situation in zwei der Länder ein, Ägypten und Irak – Länder die sehr unterschiedlich und komplex sind.
Lage in Ägypten
Im ägyptischen Parlament sei die politische Vertretung der koptischen Christen, die über 10% der ägyptischen Bevölkerung bilden, bereits vor der Revolution schlecht gewesen, betonte Prof. Suermann. Die Kopten hätten auf die Gründung einer eigenen Partei und das Bestehen auf eine Quote im Parlament verzichtet. Nur in Ausnahmen wurden Christen als Abgeordnete ins Parlament gewählt. Bei den Wahlen 2005 konnte z.B. nur der koptische Finanzminister Yousef Boutros Ghali direkt einen Sitz erhalten, fünf weitere Kopten wurden durch Präsident Mubarak ernannt. Erstmals wurde damals auch ein Kopte zum Provinzgouverneur ernannt. Dieser wurde später nach Protesten, die im Laufe der Zeit eine religiöse Konnotation erhalten hatten, abgesetzt.
Auch nach der Revolution habe sich an dieser Situation nichts geändert, erläuterte Prof. Suermann: das Parlament hat 508 Sitze, für zehn kann der Präsident, im aktuellen Fall Tantawi, Vorsitzender des Obersten Rats der Streitkräfte, die Abgeordneten ernennen. Gewählt wurden zwei Kopten von 498 Abgeordneten. Tantawi ernannte weitere 5 Kopten, was insgesamt einer Quote von 1,4% entspricht.
Im Weiteren ging Prof. Suermann auf die aktuelle Verfassung ein. Die vorläufige Verfassung, die nach der Absetzung von Mubarak neu bearbeitet wurde, unterscheide sich nur geringfügig von der Vorhergehenden. Art. 2 definiert beispielsweise, dass der Islam die Staatsreligion und die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung seien. Art. 4 umreißt die Freiheit, sich in Verbänden und Organisationen zusammenzuschließen, doch keine Partei oder politische Aktivität dürfe auf der Basis religiöser Autoritäten geschehen, genauso wenig auf Diskriminierung und Geschlecht beruhen. Nach Art. 6 dürfe es keine religiöse Diskriminierung geben und Art. 11 garantiert Glaubens- und Kultfreiheit.
Christlich-islamische Spannungen
Prof. Suermann ging im Folgenden auf gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kopten und Muslime ein, die es bereits seit Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre gegeben hat. Am 15. Oktober 2005 kam es z.B. in Alexandria zu brutalen Ausschreitungen gegen die christliche Minderheit, bei denen mehrere zehntausend Muslime die Georgs-Kirche angriffen, wo ein Theaterstück aufgeführt worden war, das angeblich den Islam verunglimpfte. Die Aufführung hatte aber zwei Jahre vor den Ausschreitungen stattgefunden. Im April 2006 stach ein bewaffneter Mann Gläubige in drei Kirchen in Alexandria nieder.
Ausschlaggebend für die aktuelle Revolution sei das Attentat auf die Kirche Peter und Paul in Alexandrien am Neujahrstag gewesen, bei der die Sicherheitskräfte keine rühmliche Rolle gespielt hätten; es gab 21 Tote und 83 Verletzte.
Viele kleine und größere Zusammenstöße zwischen Kopten und Muslimen folgten, über die auch in den deutschen Medien berichtet wurde.
Bildungssituation
In seinen weiteren Ausführungen ging Prof. Suermann auf die Bildungssituation der Christen ein. Demnach erhalten Kopten im Bildungswesen „nicht die gleiche Unterstützung wie die Muslime, während einige Ausbildungsgänge und -institutionen den Kopten verschlossen bleiben“. So ist z.B. den Kopten – mit wenigen Ausnahmen – seit 1940 verboten, Arabisch zu unterrichten, was damit begründet wird, dass hierzu die Kenntnis des Korans notwendig sei. Auch seien einige Studiengänge, obwohl sie nicht mit den religiösen Studien zu tun haben, für Christen verboten und nicht alle Stipendien seien auch für die Christen erhältlich. Insbesondere würden die islamischen Bildungseinrichtungen vom Staat unterhalten, während die christlichen Bildungseinrichtungen keine Unterstützung erhalten würden.
Der Religionsunterricht sei in den staatlichen Schulen verpflichtend. Dort, wo die Nicht-Muslime keine 10% erreichen, müssen sie am islamischen Unterricht teilnehmen, wo ihnen die islamische Sicht des Christentums gelehrt wird.
Im Weiteren ging Prof. Suermann auf das heikle Thema Mischehen und Kirchenbauten ein. Zum verhärteten Klima hätte, nach seinen Aussagen, auch die Haltung der koptischen Kirche beigetragen, die auf Konversionen genauso heftig reagiert wie die Muslime.
Bezüglich Kirchbau bemerkte Prof. Suermann, dass es unterschiedliche Gesetze und Vorschriften für Kirchen und Moschen gibt. In der Regel müssen Christen Jahre lang auf eine Genehmigung (meist erfordert es ein Dekret durch den Präsidenten) für ein Kirchenbau warten, während Moscheebauten kurzfristig entschieden würden. Eine der Vorschriften ist, dass Kirchen einen bestimmten Abstand zu Moscheen halten müssen; wird aber ein Antrag auf Kirchenbau gestellt, kommt es oft schnell zum Bau einer Moschee in der Nähe, um den Kirchenbau zu verhindern.
Brennpunkt Irak
Zunächst ging Prof. Suermann auf die Lage vor der amerikanischen Invasion ein und bemerkte, dass schon seit der Gründung des Iraks die Christen unter Bedrängnis waren. „Waren viele Assyrer von den Massakern im osmanischen Reich geflohen, so war die Integration in den arabischen Staat Irak nicht leicht,“ sagte er. Unter Saddam seien auch christliche Dörfer und Kirchen im Kampf gegen die Kurden zerstört worden und viele Christen dabei ums Leben gekommen. In diese Zeit fiel auch die Abwanderung vieler assyrisch-chaldäischer Christen aus dem Norden nach Bagdad. Ursachen waren der Kampf der Kurden mit dem irakischen Diktator, aber auch die leidvolle lange Erfahrung im Zusammenleben mit den Kurden. Christen, die sich für arabisch erklärten und auf die Betonung des „Assyrertums“ verzichteten, wurden gut in den Staat integriert. Das Unrechtsregime von Saddam Hussein betraf jedoch insgesamt Christen und Muslime gleichermaßen.
Bezüglich der Invasion der Koalitionstruppen unter amerikanischer Führung betonte Prof. Suermann, dass dies zwar den Irak vom Diktator Saddam Hussein befreit habe, es jedoch bisher nicht gelungen sei, Freiheit und Demokratie im Irak tatsächlich zu etablieren. Im Gegenteil, „die Invasion und die dann folgende amerikanische Besatzungspolitik hat ein Machtvakuum geschaffen, in dem verschiedene politische Kräfte um die Herrschaft ringen und Kriminelle ihr Unwesen treiben“, ergänzte Prof. Suermann.
Die Christen und andere religiöse Minderheiten seien von den Machtkämpfen, die zwischen Schiiten und Sunniten toben, sehr betroffen, aufgrund ihrer Zahl sogar existenzbedrohend. Über die Hälfte der einst 1.2. Millionen zählenden assyrisch-chaldäischen Volksgruppe haben seit 2003 den Irak verlassen müssen.
Schon vor den Attacken auf Kirchen gab es islamische Angriffe auf Alkoholverkäufer, Schönheitssalons, Frisörsalons, Geschäften mit westlicher Musik oder westlichen Videos. Im Mai 2003 warnten schiitische Führer in Bagdad „sündige Frauen“, Alkoholverkäufer und Kinos vor schweren Konsequenzen, sollten sie ihr Geschäft nicht aufgeben.
Christen wurden als natürliche Verbündete der Amerikaner betrachtet, die als Besatzer angesehen werden. Sie werden deshalb stellvertretend als „Kreuzzügler“ beschimpft, ein Terminus, der sie klar als Feinde der islamischen Gesellschaft kennzeichnet, erläuterte Prof. Suermann. Es kam nicht nur zu kriminell motivierten Entführungen, sondern auch religiös motivierten Übergriffe. Als einer der Entführungsfälle schilderte Prof. Suermann den Fall des entführten Priester Boulos Iskander von der syrisch-orthodoxen Kirche im Oktober 2006. Als Grund wurde die Rede des Papstes in Regensburg genannt. Obwohl die Gemeinde in Mossul die Forderungen der Entführer erfüllte, öffentlich die Referenz auf islamische Gewalt in der Papstrede zu verurteilen, wurde er ermordet. Laut dem chaldäischen Weihbischof Shlemon Warduni konnte der geforderte Betrag von 350.000 US$ nicht aufgebracht werden. Der sunnitische Rat der Ulema verurteilte die Tat als gegen die Interessen des Iraks gerichtet.
Irakische Verfassung
Am 15. Oktober 2005 wurde per Volksentscheid über eine neue Verfassung für den Irak abgestimmt. Nach anfänglichem Zweifel wurde sie angenommen. Zuvor waren Wahlen durchgeführt worden, bei der sechs assyrisch-chaldäische Christen ins Parlament kamen. Aufgrund von massiven Wahlbehinderungen in den mehrheitlich christlichen Städten fühlten sie sich unterrepräsentiert und protestierten dagegen. Die Wahlbehinderung war vor allem in der Ninive-Ebene eklatant.
Die neue irakische „Verfassung zeige, welche Stellung den Christen im neuen, Irak zugewiesen“ werden sollte, so Prof. Suermann. Die Präambel des Verfassungsentwurfes zählt die Errungenschaften der „Söhne Mesopotamiens“ auf und erwähnt auch die Leiden in der neueren Zeit, doch „weder die christliche Religion noch die ethnische Gruppe der Assyro-Chaldäer werden dort ausdrücklich erwähnt“, unterstrich Prof. Suermann. Auf besondere Artikel eingehend sagte er, dass Artikel 1 die Republik Irak als unabhängige, souveräne Nation und als demokratisch, föderal und repräsentativ deklariert. Artikel 2 nennt den Islam als offizielle Staatsreligion und die Grundquelle der Gesetzgebung.
Da die unbestrittenen Regeln des Islam nach Auffassung der meisten Muslime in der Scharia niedergelegt sind, ist nach Auffassung der meisten die Scharia als Quelle des Rechts für den neuen Irak praktisch vorgegeben.
Die Verfassung, so Prof. Suermann, auch wenn sie ambivalent ist, ist eine Sache – sie durchzusetzen sei eine andere. Letzteres sei aufgrund des staatlichen Machtvakuums nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Regierungsmitglieder wohl in erster Linie eigene Gruppeninteressen durchsetzen wollen, die durch die jeweilige Konfession bestimmt seien. Prof. Suermann ergänzte, dass nach Auskunft des Nuntius in der irakischen Regierung und in den regionalen Regierungen eine konfessionsorientierte Politik betrieben werde, die unter anderem dazu führe, dass viele Christen ihre Arbeitsgelegenheiten verloren; christliche Unternehmer mussten deswegen auch schon ihre Betriebe stilllegen.
Prof. Suermann berichtete, dass viele Christen aus Bagdad und Mosul in die kurdischen Provinzen geflohen seien, in der Hoffnung, dort sicher vor Verfolgung zu sein. „Tatsächlich konnten bisher dort keine gezielte Anschläge auf Christen festgestellt werden“, sagte er. Der Report der United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) aus dem Jahre 2007 deutet aber an, dass auch die Regierung in den kurdischen Gebieten Christen diskriminierend behandelt, indem Eigentum ohne Kompensation konfisziert würde.
Dennoch sei die Lage im kurdischen Teil des Irak stabil und ruhig; Christen würden dort zumindest nicht verfolgt, doch diskriminiert. Hoffnungsträger für die Christen dort war und ist Sarkis Aghajan, der ehemalige assyrische Finanzminister der kurdischen Regionalregierung. Mit seiner Hilfe konnten in Nordirak viele Christen ein Zuhause finden und aufbauen und die Infrastruktur für die christlichen Gruppen konnte merklich verbessert werden.
Aber auch im Nord-Irak kam es 2011 zu Aktionen gegen die Christen. In Zakho und Umgebung von Dohuk wurden Alkoholgeschäfte, Frisörläden und Restaurants von Christen und Jeziden angegriffen, berichtete Prof. Suermann.
Die Lage im Irak seit der Invasion unter der Leitung der Amerikaner katastrophal gewesen und betrifft vor allem auch die Minderheiten. Die Hälfte der Christen des Iraks hat mittlerweile das Land verlassen. Sie sind weit überrepräsentiert unter den Flüchtlingen. Der Strom der Flüchtlinge ist ungebremst und nur eine radikale Änderung der Sicherheitslage könne ihn stoppen. Prof. Suermann schloss mit der Anmerkung, dass „der neue Irak durchaus das Ende des 2000 Jahre alten Christentums bedeuten kann, vor allem in den nicht-kurdischen Gebieten“.
Bei der am Ende der Veranstaltung erfolgten Diskussion wurde erwartungsgemäß die Situation der Christen in Syrien angesprochen. Hierzu bemerkte Prof. Suermann lediglich, dass die Lage sehr komplex sei. Syrien, gleicht einem Mosaik von ethnischen Gruppen und Konfessionen; die verschiedenen christlichen Gemeinschaften bilden mehr als 10% der Bevölkerung. Wegen dem vorwiegend konfessionellen Charakter des Aufstandes (Sunniten gegen die herrschenden Aleviten) befürchten die Christen unter die Räder zu geraten und ein ähnliches Schicksal wie die Christen im Irak zu erleben. Die Kirchenführungen sehen in Assad das kleiner Übel im Vergleich zu einem drohenden islamistischen Staat, doch forderten sie schnelle Reformen und das Ende der Korruption. Die syrische Opposition ist zersplittert und es gibt mittlerweile eine große Zahl bewaffneter Gruppen, häufig vom Ausland unterstützt, welche die alevitisch-dominierte Regierungsmacht bekämpfen. Die demokratische Protestphase des Aufstandes sei längst vorbei; leider würde die westliche – und auch die deutsche Presse – zumeist einseitig über die Lage berichten, während sich der Aufstand zu einem regionalen und internationalen Konflikt entwickelt hat.
AB – Augsburg, im Juni 2012
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