Bis zu meinem vierten Lebensjahr konnte ich kaum ein Wort Deutsch sprechen, da wir in einem Stadtteil in Augsburg lebten, wo die Mehrheit der Bewohner alle möglichen Sprachen verwendete, aber kein Deutsch. Die meisten deutschen Bewohner waren aus diesem Stadtteil im Laufe der Zeit weggezogen und dieser entwickelte sich wie in vielen anderen Städten in Deutschland zu einem Ausländerghetto. Die Berührungspunkte mit der Sprache der Mehrheitsbevölkerung, dem Deutschen, waren rudimentär. Der vorausschauenden Denkweise meines Vaters war es zu verdanken, dass ich mit vier Jahren in einer katholischen Gemeinde einen Kindergartenplatz bekam, wo ich endlich Kontakt zur Mehrheitsbevölkerung, ihrer Kultur und Sprache bekam.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich meine Familie noch in der Anerkennungsphase als Flüchtlinge und meine Eltern durften nicht arbeiten. Mein Vater unterstütze ehrenamtlich die katholische Gemeinde, da es ihm sehr wichtig war, einen positiven Beitrag zu leisten und etwas von der Unterstützung zurück zu geben, die meine Familie durch ihre Aufnahme in einer freien Gesellschaft erhalten hatte. Diese Einstellung meiner Eltern, sich in Deutschland auch ohne finanzielle Vergütung einzubringen, hat mich sehr geprägt und ist ausschlaggebend für meine jetzige Sichtweise der Dinge.
Die Einstellung meiner Eltern, sich in Deutschland auch ohne finanzielle Vergütung einzubringen, hat mich sehr geprägt und ist ausschlaggebend für meine Sichtweise der Dinge.
Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult und meine Deutschkenntnisse waren mehr oder weniger, dank des Kindergartens, auf dem gleichen Niveau wie die meiner deutschen Mitschüler. Meinen Eltern war bewusst, dass Integration nur gelingen kann, wenn man mit der Mehrheitsbevölkerung lebt, und entschieden sich, aus dem „Ghetto“ in ein anderes Stadtviertel zu ziehen, wo die ganze Familie einen intensiveren Kontakt zu deutschen Familien aufbauen konnte. Obwohl meine Eltern immer noch ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatten, erkannten sie diesen wichtigen Aspekt einer erfolgreichen Integration, d.h. nicht nur das Erlernen sondern auch das Verinnerlichen anderer Lebensweisen, und schafften mit dem Umzug die Rahmenbedingungen für ihre Kinder. Meine Eltern wussten, dass der Schlüssel zum beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg in der neuen Heimat das Erlernen der deutschen Sprache und einer guten Schulausbildung war.
Schon bald wurden meine Geschwister und ich für meine Eltern zu Vermittlern, da deren Deutschkenntnisse noch nicht ausreichend waren und das Zurechtfinden in der neuen Kultur sich immer noch schwierig gestaltete. So begleiteten wir meine Eltern zu allen wichtigen Terminen, z.B. den Behörden oder erklärten den aufgesuchten Ärzten die Leiden der Eltern. Aber nicht nur meine Erzieher waren auf die Orientierungsunterstützung durch uns Kinder angewiesen, sondern auch Verwandte und Bekannte baten darum, uns aufgrund der sprachlichen Fertigkeiten mit zu Behördengängen nehmen zu dürfen. Alle meine Geschwister fungierten in dieser Rolle. Wir hatten uns diese nicht ausgesucht, sondern die Lebensumstände ließen uns keine Wahl. Und nicht immer war es angenehm, schüchtern vor einem deutschen Beamten zu stehen und zu erklären, was es mit dem einen oder anderen Antrag bzw. Anliegen auf sich hatte. Doch man kann durchaus sagen, dass diese Anforderungen früh unsere Fähigkeit zum selbständigen Denken gefördert hatten. Heute wundern wir uns oft, dass viele Jugendliche und Erwachsene nicht fähig sind, sich z.B. rechtzeitig um behördliche Angelegenheiten zu kümmern. Für uns war die Erfahrung, früh für unsere Eltern Aufgaben zu übernehmen, wichtig und prägend und hat uns geholfen, uns in einer hochkomplexen Gesellschaft zu integrieren.
Brücken zur Integration
Ich kann heute sagen, dass die drei wichtigen Brücken für meine Integration in die deutsche pluralistische Mehrheitsgesellschaft die Schule, die Kirche und der Wehrdienst waren. Die Schule bildete den Mittelpunkt meines kindlichen und jugendlichen Lebens. Meine Eltern versuchten, eingeschränkt durch ihre eigene mangelnde Schulausbildung sowie ihre begrenzten Deutschkenntnisse, mich so gut wie möglich zu unterstützen. Sie wussten, dass Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist und daran erinnerten sie mich täglich und spornten mich dadurch an. Leider war es ihnen nicht möglich, meine Hausaufgaben zu korrigieren und mit mir zu lernen. Meine Mutter ist Analphabetin und mein Vater hat sich das Lesen und Schreiben mehr oder weniger selbst beigebracht, unterstützt von sporadischen Schulbesuchen. Als ältester Sohn hatte er andere, der Existenzsicherung dienende Aufgaben für seine Großfamilie zu erfüllen und den Luxus, eine Schule zu besuchen und sich weiter zu bilden, gab es einfach nicht. Als Kind war mir dies noch nicht bewusst, und ich schämte mich häufig, dass mir meine Eltern nicht wie die meiner Mitschüler aktiv und wissend während meiner schulischen Laufbahn zur Seite standen. Heute weiß ich, dass meine Eltern ihren Möglichkeiten entsprechend alles getan haben und häufig darunter litten, über so wenig in Deutschland wichtiges Wissen zu verfügen.
Ich kann heute sagen, dass die drei wichtigen Brücken für meine Integration in die deutsche pluralistische Mehrheitsgesellschaft die Schule, die Kirche und der Wehrdienst waren.
Neben der Herausforderung, nur mit moralischer elterlicher Unterstützung die Schullaufbahn zu meistern, gab es leider auch so manchen Pädagogen, der sich meiner Herkunft und meiner Lebenssituation und –umstände in Deutschland nicht bewusst war. Ich mache diesen Pädagogen keinen Vorwurf, fehlte ihnen doch die Ausbildung und das Wissen. Es zeigt nur, wie wichtig es für alle Personen ist, die mit Migrantenkindern arbeiten, mehr über deren Hintergründe zu wissen. An einen Fall erinnere ich mich noch besonders und die Bemerkung meines Grundschullehrers hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Er sagte zu mir und anderen fünf Migrantenkindern sowie zu einem deutschstämmigen Kind aus einer sozial schwachen Familie: „Aus euch allen wird eh nichts werden.“ Es ist nicht gerade schön, als Kind solche Worte zu vernehmen. Doch bewirkte die Bemerkung bei mir das Gegenteil: „Und ich schaffe es doch“. Diese damals entstandene Devise begleitet mich bis heute und ich teile dies auch meinen „Landsleuten“ mit. Egal, was jemand sagt und welche Zuschreibung man erfährt, sein Schicksal kann man in einem optimalen Rahmen immer selbst gestalten. Nicht das „Opfer“ sein, sondern gestalten – das ist wichtig. Aber es gab auch andere Pädagogen, die einfühlsam und unterstützend mit uns Migrantenkinder umgingen. Sie kamen zu uns nach Hause, sprachen mit unseren Eltern, und erklärten die Situation „draußen“ sensibel und einfühlsam. Sie nahmen uns und unsere Situation ernst und waren auch an unserer Kultur interessiert. Dies war insbesondere für meine Eltern sehr wichtig, die sich wertgeschätzt fühlten. Die Folge war eine gegenseitige Respekterweisung.
Äußerst wichtig in dieser Phase meines Lebens waren aber auch unsere deutschen Nachbarn, die mir nicht nur bei meinen Hausaufgaben halfen, sondern auch mit mir bastelten, spielten und einfach Zeit verbrachten. Dadurch erhielt ich Innenansicht in eine andere Kultur, die mir half, mich immer besser in der äußeren Umwelt zurecht zu finden. So kochten wir z.B. häufig gemeinsam und ich lernte für mich so exotische Gerichte wie „Schnitzel“ kennen. Umgekehrt empfanden unsere deutschen Freunde die orientalische Küche als hochinteressant. Ein besonderer Höhepunkt war das gemeinsame Spielen. So beherrschte ich mit neun bereits perfekt Canasta und entdeckte meine besondere Begabung für Wirtschaftsspiele. Ich erinnere mich daran, dass manch ein Mitspieler in den Spielerstreik trat, weil meine kaufmännische Taktik auch darauf beruhte, über den für mich sehr typischen deutschen, auf Sicherheit basierenden Denkmodus hinaus zu agieren. Risiken einzuschätzen und etwas zu wagen gehört zu unserer Kultur, und dies erklärt vielleicht auch die Tendenz in meiner Herkunftsgesellschaft, in der Selbstständigenbranche zu arbeiten.
Eine wichtige Brücke in meinem Leben bildeten die Kirchen. Auf Grund unserer Zugehörigkeit zum christlichen Glauben hatte meine Familie, wie die meisten anderen syrisch-orthodoxen Christen, keine Berührungsängste mit den beiden großen Kirchen in Deutschland.
Die zweite wichtige Brücke in meinem Leben bildeten die Kirchen. Auf Grund unserer Zugehörigkeit zum christlichen Glauben hatte meine Familie wie die meisten anderen syrisch-orthodoxen Christen keine Berührungsängste mit den beiden großen Kirchen in Deutschland. Ein Abkommen zwischen unserem Patriarchen und dem damaligen Papst Johannes Paul II. erlaubt es uns, die heiligen Sakramente in der katholischen Kirche zu empfangen. Dieser Halt in einer christlichen Gemeinschaft war und ist für die christlich-altorientalische Diaspora bis heute von großer Bedeutung. Erzeugt dies doch Zugehörigkeit und Partizipation mit der Mehrheitsbevölkerung und insbesondere für die Kinder gibt es einen lokalen Ort, an dem sie sich mit Zustimmung der Eltern aufhalten können. Dies gilt auch für die evangelische Kirche, die für viele die gleiche Funktion einnimmt. Die Nähe zu den beiden großen christlichen Kirchen und der damit verbundene Zugang zur Mehrheitsgesellschaft betrifft aber in erster Linie Migranten, die ebenfalls der christlichen Glaubensgemeinschaft angehören. In meinem Fall hat es mich stärker zur katholischen Kirche hingezogen. In der dritten Klasse entschied ich mich als Ministrant in einer katholischen Kirche Gott zu dienen. Meine fünfjährige Zeit als Helfer einer Gemeinde war sehr wichtig und prägend für meinen Charakter. Nicht nur bekam ich intensiven Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft, sondern auch das Gefühl, zu einer lokalen Gruppe dazuzugehören, half mir, wirklich in Deutschland anzukommen. Besonders unser damaliger Pfarrer hieß mich willkommen und vermittelte mir immer das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein.
Meine Wehrdienstzeit ist neben der Schule und der Kirche die dritte wichtige Integrationssäule und ließ mich als junger Erwachsener endgültig in der deutschen Gesellschaft ankommen. Immer noch mit einem trotzenden und rebellischen Verhalten behaftet, das sich gegen die Mehrheitsgesellschaft abgrenzte, war ich auch stolz, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. So war ich doch durch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft mit 16 Jahren Verpflichtungen meiner neuen Heimat gegenüber eingegangen. Insbesondere das Grundgesetz, die dort verankerten Rechte und Pflichten, und die Verteidigung dieser waren für mich grundlegend geworden. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass das System, das mir und allen anderen Bürgern Freiheit und Sicherheit garantiert, nur bestehen kann, wenn es auch nach außen hin verteidigt wird. Für mich war die Einberufung zur Bundeswehr der Moment, dem System gegenüber meine Solidarität zu bezeugen. Heute vermisse ich bei vielen jungen Menschen einen gesunden Patriotismus, welcher bei mir in dieser Zeit richtig zur Geltung kam.
Neben den für die Wehrzeit typischen für alle geltenden Lerneffekten von Disziplin, Drill und Mannschaftssolidarität, unabhängig der individuellen Herkunft, kam ich unter anderem zum ersten Mal richtig in Kontakt mit jungen Männern aus den neuen Bundesländern. Übereinstimmend waren wir am Ende der Ausbildung der Meinung, dass wir unsere gegenseitigen Ansichten von einander revidieren müssen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Bundeswehr nicht nur Disziplin mit einer klaren Struktur vermittelt, sondern auch allgemein als Integrationsmotor bezeichnet werden kann.
Konflikte im Schatten der Moderne
Ich war in Deutschland angekommen und fühlte mich zugehörig. Übrig blieb jedoch der Konflikt zwischen meiner Ursprungs- und der Mehrheitsgesellschaft. Ich stamme aus einer christlich-orthodoxen Familie und wuchs in der Diaspora auf. Die altorientalischen Christen so wie auch viele andere Gruppen gehören einem Kulturkreis an, der häufig als orientalisch bezeichnet wird und patriarchalisch ist. In vielen Fällen kommen zu den patriarchalischen Strukturen noch archaische Elemente einer Stammesgesellschaft hinzu, die in der Diaspora in Reaktion auf die Anpassung an die Moderne noch stärker verteidigt und bewahrt werden. Die in meiner Gesellschaft gelebten Werte und Normen stehen in vielen Bereichen der deutschen Kultur konfligierend gegenüber. So ist z.B. die Ehre in meiner Ursprungsgesellschaft etwas, ohne die „Mann“ nicht existieren kann und das Verständnis, was Ehre ist, wie man sie erhält, bewahrt und schützt, ist völlig anders als in der westeuropäischen Kultur, zu der die deutsche gehört. Diese unterschiedlichen kulturell geprägten Auffassungen führen zu unzähligen Konflikten zwischen Mehrheitsgesellschaft und vielen Migranten. Hier möchte ich betonen, dass diese keine spirituell- religiösen, sondern kulturelle Konflikte sind.
In diesem Sinne kann man die Erziehung der männlichen Nachkommen hin zu einem dominanten Charakter als schwierig bezeichnen, wenn dies zu Lasten der weiblichen Familienmitglieder geht. Das kann dazu führen, dass eine Frau geringer wertgeschätzt wird als ein Mann. Ich selber habe lange gebraucht, um in Mann und Frau gleichberechtigte Wesen zu sehen. Auf der anderen Seite hat es die Emanzipationsbewegung im Westen auch zu weit getrieben. Männer und Frauen sind allein schon auf der physischen Ebene unterschiedlich. Männer und im Besonderen Väter müssen sich ihrer Verantwortung stellen.
Bei der Integration geht es nicht nur um das Beherrschen der Mehrheitssprache oder das mehr oder weniger funktionierende Nebeneinanderleben. Es geht vielmehr um die Zugehörigkeit zu einem Land und den dort gelebten Werten und Normen in all ihrer Vielfältigkeit.
Die Erwartungshaltung gegenüber dem weiblichen Teil der Gemeinschaft kann man in drei Teile unterteilen. Die Tochter, welche durch die Bewahrung der Unschuld den Namen der Familie sauber hält, die Ehefrau, welche im häuslichen Rahmen für den Ehemann zu sorgen hat. Und zu guter Letzt die Mutter, welche besonders von den Söhnen aufs Höchste verehrt wird. Eventuell wird es Frauen im Westen überraschen, dass manche Ehefrauen, Mütter mit dieser Rolle ganz glücklich sind.
Dieses Konstrukt ist gerade dabei sich zu verändern. Vor allem die Töchter möchten an der liberalen Lebensweise Teil haben, so wie auch die jungen Männer, denen dies weniger zum Vorwurf gemacht wird. Auch wenn sie aus dem christlichen Glauben heraus ebenfalls mit Barrieren zu kämpfen haben. Beim Bruch mit diesen Traditionen kommt es immer wieder zu Konflikten. Zwangsheiraten sind ein Mittel, um so eine Abgrenzung von der Tradition zu verhindern. Sollte diese Möglichkeit nicht mehr zur Verfügung stehen, kann dies bei besonders verschlossenen Gemeinschaften sogar zu einem Mord im Namen der Ehre führen. Der Name der Familie wird durch den Tod des sündigen Familienmitglieds, welches z.B. einen deutschstämmigen Lebenspartner hat, wieder rein gewaschen. Nach Außen wird dann oft beteuert, wie leid einem das Ganze tut. Doch in Wirklichkeit genießt der Ausführende, in diesem Fall ein Onkel, ein Cousin oder sogar der eigene Bruder, innerhalb der Community ein hohes Ansehen. Das darauf folgende Bekenntnis zum Grundgesetz hilft nicht viel, wenn dieses nicht auch gelebt wird.
Im Klanwesen gibt es eine Art Ältestenrat, der einem Patriarchen untersteht. So z.B. der älteste Onkel oder der älteste Sohn, dieser kümmert sich dann um die internen Angelegenheiten. Bei Streit oder rechtlichen Themen ist er für die innergemeinschaftliche Justiz zuständig. Man kann davon ausgehen, dass der Befehl zu den oben erwähnten Vergehen, wie z.B. ein Ehernmord, nie von dieser Person selber durchgeführt wird. Bedenklich ist vor allem, dass innerhalb dieses internen Raumes der eigentliche Rechtsstaat nur rudimentär präsent ist. Die ursprüngliche, kulturelle Rechtsansicht kommt zum tragen.
Dieser interne Verhaltenskodex, welcher durchaus auch positive Eigenschaften hat, entzieht sich in den meisten Fällen den Blicken der westlichen Welt. Im Rechtsstaat entsteht ein Mikrorechtsstaat, welcher die westliche Judikative von innen aushöhlt, und damit demokratieschädlich ist. Mitglieder innerhalb der Gemeinschaft, welche mit diesem Recht brechen, haben mit Repressalien zu rechnen.
Gegenseitige Abgrenzung
Bei der Integration geht es m.E. nicht (nur) um das Beherrschen der Mehrheitssprache, d.h. des Deutschen, es geht auch nicht bloß um das mehr oder weniger funktionierende Nebeneinanderleben. Es geht vielmehr um die Zugehörigkeit zu einem Land und den dort gelebten Werten und Normen in all ihrer Vielfältigkeit. Zugehörigkeit hat zwei Aspekte. Zum einen die Person, die sich zugehörig fühlt und sich zu einem Land bekennt, und zum anderen die anderen, die ihr Zugehörigkeit zugestehen und nicht absprechen. Fragen wie „woher kommst Du ursprünglich“ oder „sie sprechen aber gut Deutsch“ fügen diesem großen Schaden zu. Stereotypische Einordnungen, z.B. vor Gericht, wenn es um Aufenthaltsbestimmungsort und Sorgerecht geht, und man dem deutschen Staatsbürger, der ja eigentlich ein Türke ist, vieles ohne es auszusprechen unterstellt, verhindern, dass sich Migranten zugehörig fühlen können. Auf der anderen Seite bedeutet Zugehörigkeit aber das klare Bekenntnis zu dem geltenden Rechts- und Wertesystem. Das Lippenbekenntnis zum Grundgesetz reicht nicht aus. Man muss dieses auch verstehen und den Wert darin erkennen, was vielen urdeutschen Mitbürgern auch gut tun würde.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist meine Überzeugung, dass Integration nicht Assimilation bedeutet, sondern eigentlich Anpassung und Aufblühen in einer anderen Kultur. Kultur ist nicht statisch und homogen, sondern heterogen und einem ständigen Wandel unterworfen, der u.a. durch äußere Einflüsse inspiriert wird. Dies gilt sowohl für die Mehrheits- wie die Minderheitskultur, die sich gegenseitig beeinflussend verändern. Der Grad der Beeinflussung und der Veränderung variiert natürlich. Doch muss im Fokus dieser Anpassung immer ein Menschenbild im Vordergrund stehen, das dem Humanum verpflichtet ist.
Die meisten Migranten, insbesondere in der zweiten, dritten und vierten Generation, sind längst integriert und fühlen sich zugehörig. Sie bilden die schweigende Mehrheit. Aber es gibt Probleme, die angesprochen werden müssen, und dies geschieht auch, wobei meines Erachtens der Fokus viel zu sehr auf der Religion liegt, sprich dem Islam, und auf Menschen, die als Muslime bezeichnet werden, ob sie nun gläubig oder praktizierend sind oder nicht. Wenn eine Religion aber zur Ideologie erhoben wird, die schädliche kulturelle Muster unterstützt, hat diese keine Berechtigung mehr, als solche anerkannt zu werden.
Leider werden hier immer wieder zu wenige Unterschiede gemacht, und natürlich macht es einen großen Unterschied, ob jemand sunnitischer Türke und ursprünglich aus einem urbanen Kontext stammt, oder ob er ein sunnitischer Kurde aus dörflich geprägten Strukturen ist. Und die Unterschiede sind kultureller Natur und nicht religiöser. Wir haben in Deutschland also keinen Religionskonflikt, sondern einen Kulturkonflikt mit bestimmten Gruppen der Migranten und diese sind in der Minderheit, fallen aber umso mehr auf, da es eben Konflikte gibt.
Die Sehnsucht nach paralleler Zugehörigkeit zu zwei nicht kompatiblen Gesellschaftsmodellen ist für viele junge Migranten schwierig.
Die Sehnsucht nach paralleler Zugehörigkeit zu zwei völlig verschiedenen, nicht kompatiblen Gesellschaftsmodellen ist für viele junge Migranten schwierig, und viele fühlen sich innerlich zerrissen. Die Entscheidung, in eine Richtung zu gehen, hat unweigerlich zur Folge, kulturelle Teile der anderen Richtung hinter sich zu lassen. Man kann sich nicht zwei unterschiedlichen Dogmen widmen, so wie man nicht zwei Meistern dienen kann. Viele junge Migranten und Migrantinnen durchlebten und durchleben einen Kampf an zwei Fronten. Sie müssen den Spagat schaffen, die eigne, in der Vergangenheit verankerte Kultur anzupassen, um mit der Mehrheitsgesellschaft harmonieren zu können. Doch genau zwischen den Mahlsteinen innerhalb dieses Anpassungsprozesses werden viele, vor allem männliche Bürger dieses Landes, zerrieben. Sie betrachten sich nach dem Scheitern als Opfer, gedemütigt, ohne Perspektive und Zukunft. Wer diesen Zustand erreicht hat, befindet sich unbewusst in allerhöchster Gefahr. Man ist nun anfällig für schädliche Dogmen.
Gefahr für junge Menschen
Strukturlos, ziellos, ohne einen festen Platz, ohne das Gefühl gebraucht zu werden, ohne einen Ort der Zugehörigkeit – so könnte man den Zustand vieler junger Menschen bezeichnen, die auf der Verliererseite sind. Die gleichen Attribute sind auch bei Jugendlichen zu betrachten, die keinen Migrationshintergrund haben und später vom rechtsradikalen Gedankengut indoktriniert werden.
Wir haben in Deutschland keinen Religionskonflikt, sondern einen Kulturkonflikt mit bestimmten Gruppen der Migranten.
Das Muster ist immer das gleiche: In diesem Zustand sind junge Menschen besonders anfällig für radikale Thesen. Egal ob diese nun rechter, linker oder religiöser Natur sind. Meistens ist der junge Mann einfach froh, in einer Gruppe mitwirken zu können. Um an ein höheres Ziel zu glauben, so z.B. durch die eigene Ausgrenzung in einer Parallelgesellschaft einer höheren Sache dienen zu dürfen. In diesem Moment erscheint alles außerhalb dieser eigenen Gruppe als nicht richtig. Das freizügige Leben der Frauen wird als schmutzig betrachtet, Das Trinken von Alkohol ist eine Sünde, der dunkelhäutige Fremde wird als Parasit wahrgenommen. Im schlimmsten Fall ist man bereit, Anschläge oder Morde zu verüben, um so viele „Sünder und Schmarotzer“ wie möglich in den Tod zu reißen.
Verstärkt durch die Taten der Einzelpersonen oder Gruppen, entsteht nach außen das Bild, dass eine bestimmte Gemeinschaft zu bestimmten Taten neigt. Das trifft zwar nicht zu. Aber genau dieses stereotypische Denken führt zu einem Aufwiegeln der Gesellschaft mit dem Resultat, dass sich in der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft radikale Gruppen bilden. Die Fronten verhärten sich. Ghettos in urbanen Regionen verwandeln sich in Pulverfässer. In strukturschwachen Regionen bekommen stark nationalistische Strömungen Zulauf. Es entsteht ein Teufelskreislauf, welcher durchbrochen werden muss, wenn man diesen Menschen helfen will.
Es sollte nun nicht der Eindruck entstehen, dass dies überall so ist. Doch sollten wir auch so ehrlich sein und sagen, um was es uns geht: Kopftücher in der Schule, getrennter Sportunterricht, Überbewertung der Männlichkeit? Dies sind alles Merkmale einer sich ausgrenzenden Gesellschaft. Das hat dann nichts mehr mit Religion zu tun. Es geht nur darum, sich gegenüber der anderen Gruppe durchzusetzen und triumphierend der Mehrheitsgesellschaft den eigenen Willen aufzuzwingen. So z.B. ist auch die Tatsache zu erklären, dass es gerade in patriarchalisch geprägten Gesellschaften verstärkt zu Zwangsehen kommt. Und dies habe ich selbst in christlichen Familien erlebt, die aus diesen Regionen eingewandert sind.
Aber wahrscheinlich sind die 95% der deutschen und nichtdeutschen Bürger, die sich durch die etablierten gesellschaftlichen oder politischen Akteure nicht vertreten fühlen, selber schuld an der Misere. Bis vor einigen Jahren wäre auch ich nicht auf den Gedanken gekommen, politisch aktiv zu werden, wenn nicht bestimmte Ereignisse meinen Weg gekreuzt hätten. Die Freizeit mit Familie und Freunden zu verbringen ist doch viel schöner, als sich zu organisieren, um in der Gesellschaft gegen ein stereotypisches Bild anzugehen. In meinem Fall die Blicke, wenn ich als dunkler Mensch mit meiner „blonden“ und „blauäugigen“ Ehefrau, eine Straße entlang laufe. Doch es ist unsere Pflicht, dieses Bild zum Positiven zu verändern. Schon alleine in unserem ureigensten Interesse. Denn das eine verstärkt das andere. Und so bohrt sich die Spirale immer tiefer, wie ein Keil zwischen die Gesellschaften. Das Resultat könnte eines Tages verheerend sein.
Ein lohnender Weg für alle
Leider prägte der Anpassungsprozess auch meine schulische Ausbildung. Konflikte mit dem Lehrkörper und anderen Schülern, initialisiert durch mein eigenes Verschulden und der Sichtweise, in der Opferrolle zu sein, zwangen mich meine Situation zu überdenken. Die Vernunft fand in den Worten meiner Eltern einen Widerhall, die mich baten, die Zukunft in einem mit unendlich vielen Chancen versehenen Land nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mein Schulabschluss und die anschließende kaufmännische Ausbildung in einem mittelständischen Unternehmen waren entscheidende Schritte hin zu einem stabilen Leben. Noch heute bin ich für diese solide Ausbildung mehr als dankbar, welche den Grundstein für meine spätere Selbständigkeit legte. Strukturelles Denken, ineinander übergehende Abläufe und technische Abwicklungen waren nur einige Punkte, welche mir beigebracht wurden. Die kaufmännische Ausbildung verstärkte meinen Handelsinstinkt und gab mir die Fähigkeit, mit meinen Talenten besser umzugehen. Ich bin der Meinung, dass die duale Ausbildung, wie wir sie hier in Deutschland kennen, maßgeblich für den Erfolg einer Exportnation verantwortlich ist. Vom Gewinn für ein privates, geordnetes Leben mit einem klaren Rhythmus ganz zu schweigen.
Meine solide Ausbildung hätte es mir auch ermöglicht, weitere Schulen zu besuchen um im Anschluss ein Studium beginnen zu können. So wie meine anderen Geschwister, welche heute erfolgreich im Ingenieurswesen und der Mode tätig sind. Oder man baut auf das Erlernte auf und geht seiner beruflichen Karriere nach. Doch schnell entwickelte ich den Drang, unternehmerisch tätig zu werden, um in den darauf folgenden Jahren Länder wie China, Japan, Indonesien, Singapur, Indien, Taiwan oder den arabischen Raum zu bereisen. Hier lernte ich verschiedene Kulturen, aber auch Systeme kennen. Allein die regionalen Unterschiede in China könnten ganze Bände füllen. Die Erfahrungen innerhalb der Facetten dieser Kulturen lassen den Blickwinkel für viele Dinge anders erscheinen. Natürlich konnte ich als Wanderer zwischen den Welten leicht die Eigenarten meiner Gastgeber adaptieren und auch verinnerlichen. Denn ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung, also die Teilnahme an der Gesellschaft, ist es nicht möglich innerkulturelles Verständnis zu entwickeln. Innerhalb dieser vielschichtigen Interaktion bildete die solide Ausbildung in meinem Heimatland den Anker, an dem ich mich festhielt. Allerdings ließen mich die nicht immer positiven Erfahrungen zu einem Schluss kommen: „Wie schön und sicher doch die westliche Welt ist! Wie schön und sicher Deutschland ist!“
Ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung, also die Teilnahme an der Gesellschaft, ist es nicht möglich, innerkulturelles Verständnis zu entwickeln.
Wir leben auf einer Insel der Glückseligen, Und leider ist dies den meisten Bewohnern unserer Republik nicht bewusst. Kostbarkeiten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder kostenlose Bildung, werden als zu selbstverständlich wahrgenommen. Gerade der Bildung kann man in Deutschland, einem rohstoffarmen Land, nicht genügend Wert beimessen.
Das Schöne hier ist, dass man in einem rechtssicheren und ausgesprochen hoch entwickelten Rahmen eigentlich vieles erreichen kann. Der Schlüssel etwas zu erreichen, wird jedem Bürger dieses Landes geschenkt, ohne dass er sich dieses Geschenkes häufig überhaupt bewusst ist. Die schulische Ausbildung vermittelt uns die Werkzeuge, welche es uns ermöglichen, das geballte Wissen dieses Landes zu nutzen. Bibliotheken, Museen, Ausstellungen, Messen, Praktika, all diese Quellen geben uns die Chance, uns weiterzuentwickeln. Und das auch noch fast kostenlos. Finanziert durch das Gemeinwesen. Der Wert dieser Ausbildung wird in diesem Land leider viel zu oft nicht genug wertgeschätzt.
Einige Jahre später musste ich das mit harter Arbeit aufgebaute Unternehmen wieder aufgeben. Der Verlust des Vermögens war eine Sache. Eine andere, mehrere Leute entlassen zu müssen. Gezwungen zu werden, Menschen in die Arbeitslosigkeit zu entsenden, ist nie ein einfacher Schritt.
Aber wir leben in einem Land, wo der Staat den Menschen nie alleine lässt und immer wieder Hilfe anbietet. Und sei es nur in Form von Wissen. Dieses Wissen reichte aus, um im Management für einen global agierenden, japanischen Konzern tätig zu werden. Und wieder hatte es mich in alle Richtungen verschlagen. Dass man in Finnland z.B. Verhandlungen in der Sauna macht, daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. In Italien wird alles beim Essen besprochen. Endlich lernte ich auch mal Europa kennen.
Im gleichen Zeitraum heiratete ich meine Frau, welche ebenfalls aus einem anderen System in dieses wunderschöne Land kam. Aufgewachsen in der Sowjetunion, mit jungen Jahren nach Deutschland immigriert, sieht sie sich selber als ein „bayrisches Madl“.
Gelebte Gesellschaft
Heute kann ich sagen, dass viele aufgrund all der erwähnten Erfahrungen in der Gesellschaft angekommen sind. Mein eigenes Leben ist das Resultat von Fehlern und Erkenntnissen. Fehler zu machen, ist in diesem Sinne etwas Gutes. Man lernt daraus. Das Gewonnene spiegelt sich in dem Bewusstsein wieder, dass man auch in einer heterogenen Gesellschaft gemeinsame Werte hat, für die es sich zu streiten lohnt. Dabei spielt es keine Rolle, woher wir kommen oder was wir glauben.
Genau hier können wir voneinander lernen. Im offenen Umgang miteinander fängt Integration an. Viele der Werte, welche hier als selbstverständlich betrachtet werden, sehen wird als äußerst wertvoll an. Gerade die orientalischen Christen, bedingt durch die Vertreibung und Flucht aus den Ursprungsgebieten nach Europa, gerade wir können hier einen Beitrag leisten, um Wege des Friedens zu ebnen.
Denn Leid sollte nicht mit Leid gesühnt werden, sondern mit dem Angebot zum ehrlichen Dialog. Unabhängig davon, ob es sich um vergangene Verbrechen in der Ursprungsheimat handelt, oder um die Situation der Jugendlichen in der dritten, vierten Generation, welche auch in Deutschland Gefahr laufen, sich zu verlieren. Mit einer Population von über 85.000 Mitgliedern innerhalb der Syr.-Orth. Gemeinde, die meisten davon sind deutsche Staatsbürger, mit einem hohen Anteil an gut ausgebildeten jungen Menschen und Akademikern, sind wir in der Lage, die notwendigen Brücken zu schlagen. Brücken, die auch unserer Seele Frieden verschaffen, um die Traumata unserer Vergangenheit zu verarbeiten.
Simon Jacob
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