Niedergang der Reiches – Fortbestand der Assyrer

Im Jahre 612 v. Chr. eroberten nach einem lang anhaltenden Bürgerkrieg die Babylonier und Meder, die ehemals Vasallen Assyriens waren, die Hauptstadt des neuassyrischen Reiches, Ninive. Die einzigartige Metropole ging in Flammen auf, um nie wieder zu ihrem einstigen Ruhm und Ansehen zu gelangen. Und auch nur drei Jahre später trug es sich zu, dass wiederum die gleichen Rebellen die westliche Hochburg Assyriens, Harran, dem Erdboden gleich machten, indem sie den Aufstand des letzten assyrischen Königs, Ashur-uballit II, niederwarfen. Dieses Ereignis sollte wohl das Schicksal des assyrischen Weltreiches besiegeln. Denn dies ist genau die Stelle an der seine Geschichte normalerweise endet und das Land und seine Bevölkerung aus den Geschichtsbüchern gänzlich verschwinden.

Was wurde aber nun aus dem Volk der Assyrer

Was wurde aber nun aus dem Volk der Assyrer nach dem Niedergang des assyrischen Reiches? Dies ist eine Problematik, die sich aufgrund zweier Anhaltspunkte nicht ohne weiteres lösen lässt. Zum einen ist dieser Forschungsgegenstand bisher von Assyriologen kaum oder gar nicht behandelt worden, da die meisten von ihnen wohl der Erklärung des Wissenschaftlers Sidney Smiths, die aus dem Jahre 1925 stammte, stillschweigend zuzustimmen scheinen. Denn seiner Ansicht nach, sei die gesamte assyrische Bevölkerung mehr oder minder total ausgerottet worden und so vertritt er folgende Annahme: „Das Verschwinden des assyrischen Volkes wird stets ein außergewöhnliches und herausragendes Phänomen in der Altertumsgeschichte darstellen. Zwar sind in der Tat andere ähnlich konstituierte Königreiche und Imperien untergegangen, dennoch überlebten ihre Einwohner…Hingegen scheint kein anderer Staat derartig komplett ausradiert worden zu sein, wie es bei Assyrien der Fall war.“

Zum anderen liegt, im Gegensatz zum Informationsüberfluss während der assyrischen Herrschaftsperiode, über das Volk und das Land in der Zeit nach dem Untergang des Reiches generell nur spärlich und vereinzelt Material vor. Daher scheint der annähernd totale Mangel an Informationen den Gedanken an ein Genozid nahe zu legen, der offenbar aufgrund von Augenzeugenberichten zusätzlich bestärkt wird. Als der griechische Historiker Xenophon zwei Jahrhunderte nach dem Fall Ninives durch das Landesinnere Assyriens ging, um die Stätte zweier großer assyrischer Zentren aufzusuchen, fand er nichts außer Ruinen vor. Darüber hinaus war es ihm auch nicht gelungen über die benachbart ansässigen Dorfbewohner mehr über diese Städte in Erfahrung zu bringen. Das Territorium, in dem diese öden Überreste nun lagen, gehörte dem medischen Herrschaftsgebiet an und so vermuteten die Griechen, dass seine ehemaligen Bewohner gleichfalls Meder waren.

Massenausrottung aller Assyrer?

Mittlerweile schließt man jedoch aus, dass ein derartiges Ereignis wie die Massenausrottung aller Assyrer jemals stattgefunden haben kann. Trotz alledem entspricht es den historischen Fakten, dass einige Großstädte Assyriens völlig zerstört und ausgeplündert worden sind. Denn archäologische Funde belegen, dass zahlreiche Massendeportationen mit Sicherheit durchgeführt wurden und ein großer Teil des assyrischen Adels höchstwahrscheinlich von den Eroberern massakriert worden ist. Jedoch war Assyrien ein riesiges und dicht besiedeltes Land. Und außerhalb der zerstörten Ballungszentren lief das Leben in seinem gewohnten Gange ab. Dies geht aus der erst kürzlich entdeckten Bücherei der assyrischen Provinzhauptstadt Dur-Katlimmu am Fluss Chabur hervor. Dieses aus post-imperialen Zeiten stammende Archiv beinhaltet Geschäftsunterlagen, die mehr als zehn Jahre nach dem Fall Ninives in Keilschrift abgefasst worden sind. Und abgesehen von der Tatsache, dass diese Aufzeichnungen auf die Jahre der Herrschaft des babylonischen Königs Nebukadnezar II datiert sind, weist nichts in ihrer Formulierung oder äußeren Erscheinung darauf hin, dass sie nicht möglicherweise schon unter assyrischer Herrschaft niedergeschrieben worden waren. Ein weiteres kleines Archiv, das in der Stadt Assur entdeckt wurde und in einer vorher unbekannten, aber vermutlich manneanischen Variation der Keilschrift verfasst ist, bestätigt, dass die assyrischen Goldschmiede selbst nach dem Untergang des Reiches, sogar unter medischer Obrigkeit, weiterhin in der Stadt tätig waren.

Assyrische Namen

Zudem wurden erst kürzlich weit über hundert Personen mit typisch assyrischen Namen auf Geschäftakten babylonischer Städte identifiziert. Diese Unterlagen sind jeweils auf die Zeitspanne zwischen den Jahren 625 und 404 v. Chr. festgelegt. Darüber hinaus verbleiben mit Sicherheit noch andere derartige Dokumente, in welchen aller Wahrscheinlichkeit nach weitere Männer assyrischer Herkunft entdeckt werden. Es geht leider aus keiner Quelle hervor, ob diese Personen deportiert worden sind oder Einwanderer aus Assyrien waren. Denn ihre Familien könnten sich bereits unter assyrischer Herrschaft in Babylonien niedergelassen haben. Jedenfalls belegen sie zweifelsfrei das Überleben des assyrischen Volkes und somit die Fortdauer seiner Kultur, Identität und Religion in der Zeit selbst nach dem Fall des Reiches. Ferner erforschte man auch, dass viele dieser Eigennamen zusätzlich den göttlichen Beinamen Ashur trugen und, dass außerdem etliche dieser identifizierten Persönlichkeiten überaus hohe Staatsämter kleideten, wie z. B. Pan-Ashur-Lumur, der im Jahre 530 v. Chr. der Schriftführer des Kronprinzen Cambyses unter der Regierungsgewalt Kyros II war.

Im Besonderen wurden assyrische Namen in späteren aramäischen und griechischen Texten aus Assur, wie in Hatra, Dura-Europus und Palmyra, entdeckt. Deren Existenz ist bis zum Beginn der Herrschaftsperiode der Sassaniden nachgewiesen. Diese Namen sind aufgrund der beigefügten heiligen, assyrischen Ehrennamen als solche erkennbar. Während jedoch ehemals die weiteren Namenselemente überwiegend akkadischer Herkunft waren, entstammen sie nun vornehmlich aramäischen Ursprungs. Dieser Umstand kombiniert mit den aramäischen Schriften und der Sprache der Texte, beweist, dass die Assyrer in späteren Zeiten das Akkadische nicht mehr als ihre Muttersprache beherrschten. In allen anderen Bereichen behielten sie dagegen weiterhin die Traditionen des assyrischen Reiches bei. So wurden in Assur die Götter Ashur, Sherua, Ishtar, Nanaya, Bel, Nabu und Nergal zumindest bis zum frühen dritten Jahrhundert n. Chr. angebetet. Und der in der Region geltende kultische Kalender ging ebenfalls aus der Reichsperiode hervor. Überdies wurde der Tempel von Ashur im zweiten Jahrhundert n. Chr. wiederaufgebaut und die Insignien der ansässigen Herrscher ähnelten denen der assyrischen Könige. Es ist desgleichen zu betonen, dass viele der aramäischen Namen, die in den post-imperialen Inskriptionen und Wandschriften von Assur auftauchen, bereits am gleichen Ort in 800 Jahre älteren Texten, die also zu den Zeiten des Reiches erstellt wurden, bestätigt sind.

Die Stadt Assur

Folglich war Assur keineswegs die einzige Stadt, in der assyrische Religionssitten und Kulte den Fall des Reiches überlebten. Denn der Tempel von Sin, dem großen Mondgott von Harran, wurde unter der Hoheit des babylonischen Königs Nabonid in der Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. wiedererrichtet. Aber auch der persische König Kyros behauptet, die Göttin Ishtar in ihren Heimattempel in Ninive zurückgebracht zu haben. Fernerhin beweisen althergebrachte Quellen, dass die assyrischen Bräuche in anderen syrischen Städten bis in die Spätantike hinein bestehen blieben. In Harran wurden somit die Kulte um Sin, Nikkal, Bel, Nabu, Tammuz und weiteren assyrischen Göttern bis zum zehnten Jahrhundert n. Chr. weiterhin betrieben. Und auch islamische Quellen verweisen auf diese kultischen Riten. Überdies sind assyrische Priester mit ihren für sie typisch langen und kegelförmigen Hüten und Tuniken auf zahlreichen griechisch-römischen Monumenten in Nordsyrien und Ostanatolien abgebildet.

Politischer Status Assyriens

Indes liegt über den politischen Status Assyriens in den Jahrzehnten nach dem Niedergang des Imperiums nur wenig Information vor. Man nimmt aber an, dass der westliche Teil des Landes bis zum Tigris reichend in die Hände der Babylonier gefallen ist, während der östliche Teil quer durch die Gebiete um den Fluss, mitsamt dem assyrischen Landesinneren nördlich von Assur, in medische Führung geriet. Die verbleibenden westlichen Enklaven wurden unter achämenidischer Herrschaft an Babylonien annektiert und bildeten eine Satrapie namens Athura[1]. Beide Satrapien traten jährlich Steuern an die persische Obrigkeit ab und stellten Männer zur Bildung militärischer Armeen und zur Realisierung von Projekten, dem persischen König zur Verfügung. Denn gemäß Herodot waren assyrische Soldaten am Feldzug des persischen König Xerxes gegen die Griechen im Jahre 460 v. Chr. beteiligt. Des Weiteren wirkten viele Assyrer sowohl aus Athura als auch aus Mada bei der Errichtung des Palastes von Darius bei Susa in den Jahren zwischen 500-490 v. Chr. mit.

Interessanterweise waren es die „medischen“ Assyrer, also die in Mada residierenden, die die Goldarbeiten verrichteten und die Verglasung des Palais vornahmen, während die Assyrer aus der Satrapie Athura das benötigte Holz für den Bau des Monuments aus dem Gebirge Libanons lieferten. In der babylonischen Übersetzung der persischen Inschrift, wird die Bezeichnung Athura an dieser Stelle mit Eber nari ins Aramäische übertragen, was „das Land jenseits des Flusses (Euphrat)“ bedeutet. Dies beweist, dass die westliche Hälfte des assyrischen Reiches, nach der ursprünglich aramäischen Version, bereits zu dieser Zeit stets mit dem eigentlichen assyrischen Staat assoziiert wurde. Ein bedeutsamer Umstand, auf den jedoch erst in folgenden Ausführungen eingegangen werden wird.

Somit wird klar durchleuchtet, dass Assyrien, trotz seiner Zweiteilung während der achämenidischen Herrschaftsperiode, erneut als eine politische Einheit mit beachtlichen militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten aufgeblüht ist. Im Jahre 520 v. Chr. waren sowohl Athura als auch Mada bei dem Aufstand gegen Darius beteiligt. Hierbei hatten sie versucht, durch einen Umsturz ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Zwar scheiterte dieses Vorhaben, doch gewissermaßen war das assyrische Reich bereits lange Zeit vorher wiedergegründet worden. Im Grunde genommen ist es, wenn man eine Gesamtbetrachtung vornimmt, zu keiner Zeit völlig zerstört worden. Es hat lediglich die Regierungsgewalt gewechselt. Denn es wurde anfangs von babylonischen und medischen Herrscherhäusern beherrscht, die schließlich von einer persischen Dynastie abgelöst wurden.

Dem ungeachtet haben Zeitgenossen und später griechische Historiker kaum einen Unterschied zwischen dem assyrischen Reich und seinen Nachfolgern gemacht. Ihrer Meinung nach wurde die „Monarchie“ oder eben „universale Hegemonie“, die von den Assyrern ins Leben gerufen worden ist, einfach an die nachkommenden Völker weitergegeben oder aber sie bemächtigten sich ihrer. Hierzu schreibt Ctesias von Cnidus:

„Es ereignete sich unter der Herrschaft Sardanapallos’, dass das Reich (die Hegemonie) der Assyrern nach eine Dauer von mehr als 1 300 Jahren in den Händen der Meder fiel.“

Der babylonische König Nabonid, der 60 Jahre nach dem Fall von Ninive regiert hatte und eigentlich aus der assyrischen Stadt Harran stammte, führte seine Herkunft auf die Monarchen Ashurbanipal und Assarhaddon als seine „königlichen Ahnen“ zurück. Dementsprechend werden sein Vorgänger Nebukadnezar und die persische Gebieter Kyros und Artaxerxes sowohl in griechisch-historischer Tradition als auch in der Bibel als „assyrische Könige“ bezeichnet. Aber auch Strabo, der von der Zeit um die Geburt Jesus’ berichtet, schreibt, dass „die Sitten und Bräuche der Perser denen der Assyrer ähnelten“ und ferner bezeichnet er Babylon als eine „Metropole Assyriens“. In der Tat war sie auch eine assyrische Hochburg, zumal sie nach ihrer völligen Zerstörung im frühen siebten Jahrhundert v. Chr. durch die Assyrer wiederaufgebaut worden ist.

Entsprechend der in der Antike verbreiteten Vorstellung, sollten die babylonische, medische und auch persische Herrschaft daher als Nachfolgeformen der eben genannten multinationalen Machtstruktur angesehen werden. Denn die jeweils regierende Obrigkeit ging stets aus einem Kampf innerhalb des Gefüges hervor. In anderen Worten ausgedrückt, wurde das Reich immer wieder unter der dominierenden Führung neugegründet, resultierend aus den politischen Machtverschiebungen, die sich von einem Volk auf das andere ergaben.

Natürlich durchlief das Reich mit jedem Machtwechsel Veränderungen, jedoch waren diese relativ geringfügiger Natur, fast schon kosmetischer. Die Sprache der herrschenden Elite aber änderte sich notwendigerweise mit jedem Wandel. Anfangs von assyrisch zu babylonisch, später von medisch zu persisch und schließlich zu griechisch. In ihrer Kleidung folgte die erlesene Schicht ebenfalls den verbreiteten Volkssitten und verehrte natürlich ihre eigenen Götter, von denen sie ihre Macht herleitete. So wurde Ashur, die allmächtige Reichsgottheit, zuerst durch den babylonischen Gott Marduk ersetzt und dieser danach vom iranischen Ahura Mazda und schließlich dem griechischen Zeus abgelöst.

Nichtsdestotrotz herrschten entweder die alten Strukturen des einstigen Reiches vor oder sie gewannen auf längere Sicht gesehen die Oberhand. Die Keilschrifttafeln, die nun in ihrer babylonischen, elamitischen und altpersischen Form angefertigt wurden, verwendete man weiterhin für die Beschriftung von Denkmälern. Und auch das Aramäische behielt den Status der Lingua franca, welches es zu Zeiten des assyrischen Reiches erlangt hatte, bei. Die Götter der neuen herrschenden Schicht wurden ebenso nach und nach an die assyrischen Vorbilder angepasst. Infolgedessen wurde die höchste Gottheit der Perser, Ahura Mazda, nun durch die beflügelte Scheibe Assurs dargestellt und der iranischen Göttin Anahita wurden diverse Eigenschaften der Göttin Ishtar angelegt, bis sie schließlich aus praktischen Gründen völlig an ihr angepasst wurde. Das gleiche geschah mit dem Allvater Mitra, der in das entsprechende iranische Äquivalent der assyrischen Erlösergötter Nabu und Ninurta umgewandelt wurde.

Die Auflistung könnte auf diese Art und Weise noch ewig fortgesetzt werden. So wird z.B. bis zum heutigen Tage der assyrische Kalender und die Monatsnamen im gesamten Nahen Osten verwendet. Genauso verhält es sich auch mit anderen im Reich verbreiteten Standards und Richtmaßen, wie mit dem Steuer- und Einberufungssystem, der königlichen Ideologie generell, der Symbolik in der Kunst, der Gerichtsbarkeit, den diplomatischen Beziehungen etc. Das Fortleben der assyrischen Kultur wurde sicherlich auch maßgeblich aufgrund der Gegebenheit gefestigt, dass die Babylonier und Meder bereits seit Jahrhunderten Sklaven des assyrischen Reiches waren und die Perser, als ehemalige Vasallen der Elamiten und Meder, auch schon lange Zeit sich dem Einfluß der assyrischen Zivilisation nicht hatten entziehen können. Die Eroberer Ninives, sowohl der babylonische König Nabolpolassar als auch der medische Herrscher Kyaxares, hatten nämlich vor der Machtübernahme in ihrem jeweiligen Land als assyrische Statthalter gedient.

Demzufolge existierte das assyrische Reich weiterhin, obwohl es nun nicht mehr der unmittelbaren Herrschaft der Assyrer unterstand. Dennoch trug das Volk der Assyrer nach wie vor zu Verwaltung und Ausdehnung des Gebietes bei. Aus einer Auswertung der Inschrift von König Nabonid geht hervor, dass dieser babylonische Monarch in Assyrien ausgebildete Schriftgelehrte, die mit der assyrischen Literatur und Tradition vertraut waren, in seine Staatsdienste aufnahm. Später dienten die gleichen Schreiber ebenso dem persischen König Kyros. Auf die Rolle der assyrischen Künstler in der Erbauung von Susa und Persepolis ist bereits an anderer Stelle eingegangen worden. Ferner berichtet das Buch von Ezra, das etwa um 450 v. Chr. entstand, von einem Statthalter namens Sanballat (assyr. Sin-ballit) und auch der griechische Geschichtsschreiber Xenophon erwähnt in seinen Ausführungen einen Gouverneur mit dem aramäischen Namen Abracomas. Somit scheinen die Assyrer des Öfteren die Gewalt über die persische Satrapie Athura inne gehabt zu haben.

Der griechische Historiker Thucydides berichtet, dass während des Peloponnesischen Krieges etwa im Jahre 410 v. Chr. die Athener einen Perser namens Artaphernes auf dem Weg nach Sparta abfingen. Dieser Mann, der eine Botschaft des Königs übermitteln sollte, wurde in Gewahrsam genommen und nach Athen gebracht. Die Briefe, die er mit sich trug, wurden anschließend „aus dem Assyrischen“ übersetzt. Die Sprache, um die es sich hierbei handelte, war natürlich das Aramäische, das, wie bereits erwähnt, als die Lingua franca im achämenidischen Reich gleichfalls wie es schon in Assyrien der Fall war, weiterhin gesprochen wurde.

Demzufolge wird deutlich, dass auch noch zwei Jahrhunderte nach dem Fall des Reiches, das von den Assyrern gegründet worden ist, seine Sprache trotz ihrer auffallend aramäischen Färbung nach wie vor mit Assyrien assoziiert wurde. Dieser Stand der Dinge überdauerte selbst die Herrschaft makedonischener Gebieter des Seldschuken Reiches. Denn das Territorium der Seldschuken deckte sich anfangs zum größten Teil mit dem des assyrischen Reiches und seine Hauptstadt wurde bald von Babylon nach Syrien/Assyrien verlegt. Obgleich des starken griechischen Einflusses der regierenden Elite und der Auferlegung des griechischen Idioms als offizielle Sprache, wurden die Könige der Seldschuken im Allgemeinen in griechischen Quellen als „ die Könige von Syrien“ angegeben. Eine Bezeichnung, welche die starke Verbindung mit Assyrien aufzeigen sollte.

Die griechische Vokabel Syria und die davon abgeleiteten Adjektive Syrios und Syros sind ursprünglich phonetische Varianten der Begriffe Assyria und Assyrios mit der Aphärese[2] der ersten unbetonten Silbe. Das Fallenlassen der ersten Silbe wird bereits in der aramäischen Schreibweise, die im assyrischen Reich gängig war, anhand des Namens Ashur erkennbar. Und die Abweichung in der griechischen Sprache leitet sich somit möglicherweise von der entsprechend aramäischen ab. In griechischen Texten werden beide Schreibarten frei untereinander ausgetauscht und können sich sowohl auf die persische Provinz Athura als auch auf das assyrische Imperium beziehen. Zum Beispiel schreibt Strabo, dass „die Stadt Ninos unmittelbar nach dem Umsturz durch die Syrer, ausradiert worden sei“, während sein älterer Zeitgenosse Diodorus, der Herodot zitiert, schreibt, dass „ nachdem die Assyrer fünfhundert Jahre lang über Asien geherrscht hatten, sie von den Medern erobert worden sind“. Erst zu römischen Zeiten nehmen die zwei Formen allmählich die jeweils unterschiedlichen Bedeutungen an, die Assyrien und Syrien heutzutage haben.

Syrien und Assyrien sind, nach Strabos geographischem Verständnis, nach wie vor zwei gleichbedeutende Ausdrücke und beziehen sich auf das assyrische Reich. Trotzdem unterteilt dieser selbst sie dennoch in zwei Gruppen, nämlich den Assyrern im Allgemeinen und dem assyrischen Heimatland am Tigris, welches er als Aturia bzw. Assyrien bezeichnet:

„Der Staat der Assyrer grenzt an Persien und Susa, wobei der Name Assyrien dem Land Babylonien und einem großen Teil um das ganze Gebiet herum gegeben worden ist. Letzteres wurde hierzulande ebenfalls als Aturia bezeichnet, wo sich unter anderem auch die Stadt Ninos befand [… ]Nsibin liegt jenseits des Flusses Euphrat, ist also eher auf der weitläufigen Gebiet des Landes zu finden…und jene Einwohner, die nach der heutzutage spezifischen Bedeutung des Begriffs Syrer genannt wurden, breiteten sich wie das Volk der Kulizier und Phönizier um das Meer, das dem ägyptischen Ozean und dem Golf von Issos entgegenläuft, aus. Es scheint, dass der Name Syrer sich nicht nur von Babylonien aus bis zum Golf von Issos erstreckte, sondern auch in der Antike von Issos bis zu den Euxinen reichte…Wenn nun diejenigen, die die Geschichte des syrischen Reiches niedergeschrieben haben, sagen, dass die Meder von den Persern und die Syrer von den Medern gestürzt worden sind, dann meinen sie mit der Bezeichnung Syrer kein anderes Volk als jenes, das die königlichen Paläste von Babylon und Ninos errichtet hatte. Und von diesen Syrern war König Ninos derjenige, der die gleichnamige Stadt in Aturia gründete und dessen Ehefrau Semiramis diejenige Gebieterin, die ihren Gatten an Erfolg überbot, indem sie die Stadt Babylon erbauen ließ. Diese beiden herausragenden Persönlichkeiten konnten sich dadurch der gesamten Herrschaft über Asien bemächtigen…Zu späteren Zeiten musste die Befehlsgewalt jedoch an die Meder abgegeben werden.“

Bereits zwei Generationen später zieht Plinius, der Ältere, der etwa um 70 n. Chr. schriftstellerisch tätig war, den Begriff Assyrien als Benennung des Reiches vor. Hierbei bezieht er sich vornehmlich auf das Werk Strabos. Sein Zeitgenosse Flavius Josephus verwendet ebenfalls konsequent den Ausdruck Assyrien, wenn er vom assyrischen Reich spricht. Ferner gebraucht er den Ausdruck Syrien nur, wenn er sich auf das Reich der Seldschuken und der römischen Provinz Syriens bezieht. Diese Terminologie greift bereits auf die Situation nach der Herrschaft Trajans voraus, der nach dem Feldzug gegen die Parther im Jahre 116 n. Chr. eine Provinz namens Assyrien errichtet hatte. Höchstwahrscheinlich handelte es sich hierbei aber um die Annexion des teilweise in der Adiaebene sich befindenden, unabhängigen Staates, dessen Gründung den Assyrern auf dem Territorium ihrer einstigen Heimat gelungen war.

Diese neuartige Unterscheidung, die nun zwischen Syrien im Westen und Assyrien im Osten vorgenommen wurde, geht auf die Spaltung des assyrischen Reiches in die achämenidischen Satrapien Athura und Mada zurück und kann folgendermaßen erklärt werden:

In dem eben zitierten Absatz aus Strabos Ausführungen, wird das Adjektiv Syros sowohl im historischen Sinne, indem es sich auf die Einwohner des assyrischen Reiches bezieht, als auch als in ethno-linguistischem Zusammenhang für das aramäisch-sprechende Volk, das sich selbst als Assyrer bezeichnete, verwendet. Das Gebiet, das Syro-Medien genannt wurde, war der von den Assyrern geprägte Teil Mediens, in dem das Aramäische anstelle der iranischen Sprachen gesprochen wurde. Diese ausschließlich aramäisch-sprechende Gegend, die als Assyrien bzw. Syrien bekannt ist, wurde lange Zeit vom Reich der Seldschuken regiert. Als jedoch der Staat der Seldschuken an das römische Reich im Jahre 64 v. Chr. angeschlossen wurde, schrumpfte seine Fläche, so dass es nur noch den Teil Assyriens bzw. Syriens umfasste, der bis zum Euphrat hinreichte und das nun römische Provinz Syriens wurde. Da diese Region der letzte Gebietsanschluss an das Reich der Seldschuken war, wurde sie immer noch direkt mit Assyrien in Verbindung gebracht. Somit bedurfte es keineswegs der weiteren Unterscheidung vom einstigen Assyrien der Antike. Erst zu späterer Zeit, als das römische Reich weiter ostwärts expandierte, entstand die Notwendigkeit eingehendere Begriffsdistinktionen vorzunehmen. Die Bezeichnung Syria (=Syrien) wurde nun für die römische Provinz eingeführt, während der Ausdruck Assyrien weiterhin für die Gegend Aturia/Adiaebene jenseits des Tigris verwendet wurde. Höchstwahrscheinlich soll diese Unterscheidung lediglich die linguistische Richtigkeit wiederspiegeln, da die aramäischen Bezeichnungen für Assyrien im Westdialekt ihre erste Silbe verloren, während sie sie im Ostdialekt indes beibehielten.

Grundsätzlich lässt sich diese unendliche Diskussion insofern zusammenfassen, dass die Begriffe Syrien und Assyrien unabhängig von ihren jeweils späteren Bedeutungen, im griechischen und lateinischen Gebrauch sich ursprünglich auf das assyrische Reich bezogen. Wobei die aramäisch-sprechende Bevölkerung als Assyrer und die Schrift, welche sie verwendeten ebenso als assyrisch bezeichnet wurde. Wann, wie und warum kam es dann aber zu dieser immanenten Assoziation der Begriffe Assyrien und Assyrer mit den Ausdrücken Aramäer und aramäisch?

Bereits im zwölften Jahrhundert v. Chr. expandierte jenseits des Euphrats das Reich. Und ab diesem Zeitpunkt an bildeten die Aramäer auch die Mehrheit unter der Bevölkerung. Infolgedessen führten die assyrischen Könige dreihundert Jahre später eine rege Politik der Assimilation und Integration ein. Damit beabsichtigten sie nämlich den nicht enden wollenden Revolten und Umstürzen, die das Fortbestehen des Reiches in der Vergangenheit gefährdet hatten, endgültig ein Ende zu setzen. Sehr bald wurden die Ergebnisse dieser Politik sichtbar. So wurden die rebellierenden Länder dem Reich als neue Provinzen angeschlossen, wobei Tausende von Menschen in andere Teile des Herrschaftsgebietes deportiert wurden und die annektierten Territorien komplett nach assyrischer Art und Weise reorganisiert wurden. Dies betraf die Einführung von einheitlichen Steuersätzen und eines Wehrpflichtsystems, die Etablierung von allgemein geltenden Gewichts- und Maßeinheiten, die Umwandlung der lokalen königlichen Stadt in ein Verwaltungszentrum und darüber hinaus die Auferlegung einer einzigen allumfassenden Schrift und Sprache, nämlich dem Aramäischen. Gegen Ende des achten Jahrhunderts deckte dieses Provinzsystem das gesamte Levant von Palästina bis nach Zentraliran ab und wurde ferner im siebten Jahrhundert ausgeweitet. Zu dieser Zeit wurde das Aramäische in allen Gegenden innerhalb des Reiches gesprochen und auch die assyrische Reichskultur dominierte über Jahrhunderte hinweg quer über das Land verteilt.

Die aramäische Übernahme Assyriens war eine vorausgeplante Politik, die die Erlangung einer neuen nationalen Einheit und Identität in dem Maße anstrebte, wie sie nie hätte erreicht werden können. So verblieb dem Reich eine lose Ansammlung von verschiedenen vollblütigen Völkern und Sprachen. Ein Umstand, der ungeahnte Konsequenzen nach sich zog. Obgleich nämlich das Akkadische seine Position als Sprache der regierende Elite bewährt hatte und die Keilschriftskripte weiterhin zu Prestigezwecken verwendet wurden, bildete das Aramäische ebenfalls bald einen wesentlichen Bestandteil der Reichsverwaltung. Es war keineswegs ausschließlich die Sprache der unterworfenen Völker, sondern sie war vollkommen gleichgestellt mit dem Akkadischen. Schließlich wurde es dann auch die Sprache der herrschenden Schicht.

Ab dem neunten Jahrhundert v. Chr. an stößt man in den hohen Staatsämtern immer häufiger auf Männer mit aramäischen Namen. Und ab dem achten Jahrhundert v. Chr. wurde jede offizielle Schrift sowohl im Akkadischen als auch im Aramäischen niedergeschrieben. Da nun der größte Teil des Schriftverkehrs der Reichsverwaltung im Aramäischen vonstatten ging, war sicherlich die gesamte regierende Schicht gegen Anfang des siebten Jahrhunderts bilingual. Viele Schreiber, die in Keilschrift ihre schriftlichen Aufzeichnungen festhielten, sprachen als Muttersprache sicherlich das Aramäische. Beispielsweise machte der Verfasser, der eine Kopie der ersten Tafel des Gilgamesch Epos für die Sammlung der Bücherei Ashurbanipals anfertigte, einen Fehler, der nur aus der Feder eines aramäisch Sprechenden entstammen konnte. Denn er verwendete für die Beschreibung des Wortes „Sohn“ das Keilschriftzeichen für „Herr“. Bekanntermaßen bedeutet nämlich der Begriff mara im Aramäischen „Herr“, wohingegen der homophone Ausdruck mara im Akkadischen „Sohn“ heißt. Somit setzte er für das akkadische Wort unbewusst das aramäische ein.

Es kann mit Bestimmtheit als erwiesen betrachtet werden, dass gegen Ende des siebten Jahrhunderts die aramäische Sprache und die aus der Reichszeit stammende Kultur wesentliche Elemente der assyrischen Identität darstellten. Während das Aramäische diejenige Sprache war, die das Imperium vereinte, wurde es außerhalb seiner Grenzen nicht gesprochen. Das gleiche galt ebenfalls für die Kultur und dem Glauben innerhalb des Herrschaftsgebietes. Indessen wurden die ansässigen Götter weiterhin in verschiedenen Teilen des Reiches angebetet. Sonach teilte das gesamte Land den Glauben an einen einzigen allmächtigen Gott und seiner irdischen Präsenz, verkörpert durch den assyrischen König.

All diese Charakteristika überlebten den Fall des assyrischen Reiches und trugen dazu bei, dass den Nachfolgestaaten der typisch assyrische Stempel aufgedrückt wurde. Folglich gelang es trotz dem Einfluss der fremden Sitten und kulturellen Elemente, die von den neuen Oberherrn eingeführt wurden, die entstehenden Traditionen wesentlich zu prägen. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass die fremden Gewohnheiten der regierenden Herrscher das assyrische Identitätsbewusstsein unter der Mehrheit der Bevölkerung eher gesteigert haben. Dies trug sich wohl vor allem an den weitläufigen Gebieten, die an Assyrien angegliedert worden sind, zu. Hierbei handelte es sich um die spätere achämenidische bzw. römische Provinz Athura bzw. Syrien, die sich natürlich im Landesinneren befand.

Es versteht sich von selbst, dass in den folgenden Jahrhunderten nach dem Fall Assyriens, die assyrische Kultur sich beträchtlichen Veränderungen unterziehen musste. Dies ist jedoch ein natürlicher Prozess. Denn selbst unter assyrischer Herrschaft war sie stets für neue Impulse von allen Seiten empfänglich. Die folgenden Herrschaftsperioden der Perser, Makedonier, Römer, Byzantiner, Sassaniden und schließlich Araber und Türken haben somit dauerhafte Spuren im assyrischen Kulturerbe hinterlassen. Folglich unterscheidet sich das heutige kulturelle Verständnis bezeichnenderweise von dem vor 3 000 Jahren. Aber den gleichen Prozess hatten auch andere Zivilisationen zu durchlaufen. Die heutige griechische Kultur ist nicht die gleiche, wie in der Antike, noch ähneln die modernen Griechen in ihrer Lebensweise und Einstellung dem einstigen griechischen Volk. Der ausschlaggebende Punkt ist, dass die Assyrer nach wie vor fest an ihre ethnische, kulturelle und sprachliche Identität festhalten, trotz ihres Verlustes an politischer Macht und den heftigen Verfolgungen, die sie vor allem in der Ära der Christianisierung erfahren mussten.

Es war nicht einmal den Seldschuken, Römern und Byzantinern im Laufe ihrer eintausend Jahre andauernden griechischen Herrschaft gelungen, die assyrische Identität als kulturelles Gut und das Aramäische als Landessprache aus dem Nahen Osten zu verdrängen. Ganz im Gegenteil, das Reich der Seldschuken unterlag sehr bald dem enormen „syro-makedonischen“ Einflüssen. Der römische Historiker Livius, der sich auf die Ausführungen Manlius’ und Titus Flaminius’ aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. beruft, schreibt, dass „die Makedonier innerhalb der Grenzen des Seldschuken Staates und Babyloniens zu Syrer bzw. Parther assimiliert sind … Denn die Armeen Antiochs III. waren alle Syrer.“

Zahlreiche Schriftsteller und Philosophen der Spätantike, die im römischen Syrien geboren wurden, bekennen sich selbst in ihren Schriften zu Assyrer, wie z.B. Lucian Samosata, ein Literaturexperte aus dem zweiten Jahrhundert, der sich als „einen Assyrer….der nach wie vor barbarisch in seiner Rede ist und fast ein Jackett in assyrischem Stil anzieht“ vor. Ein weiterer Gelehrter des zweiten Jahrhunderts, ein Iamblichus, der ein Roman schrieb, dessen Erzählung sich in Babylon abspielt, „war sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits von seiner Rasse ausgehend Syrer. Ein Syrer nicht im Sinne der griechischen Auffassung, nämlich Wanderer, die sich in Syrien niedergelassen hatten, sondern ein gebürtiger Einwohner, der selbstverständlich mit der syrischen Sprache und Lebensgewohnheiten vertraut war.“ Sein berühmter Namensvetter, der neoplatonische Philosoph Iamblichus stammt ebenfalls aus Syrien. Der Name Iamblichus ist die griechische Übersetzung des aramäischen Namens Ia-milik, was bereits aus den Quellen aus der Blütezeit des assyrischen Reich hervorgeht.

All diese sich bekennenden Assyrer waren in der griechischen Kultur bewandert, sich aber gleichzeitig über die großartigen Errungenschaften der Antike und ihrem eigenen kulturellen Erbe bewusst. Der syrische Kirchenvater Tatian, der im zweiten Jahrhundert lebte, beschreibt sich selbst in seiner Oratio adversus Graecos „als derjenige, der im Lande der Assyrioi (=Assyrer) geboren wurde und der daher nach Barbarenmanier philosophiert. Des weiteren bin ich zunächst nach den hiesigen Grundsätzen erzogen worden und bildete mich später jedoch gemäß dem weiter, wozu ich mich bekenne“. Anschließend fährt er damit fort, dass die griechische Kultur nicht schätzenswert sei.

Derartige Ausdrücke bezüglich der assyrischen Identität nehme ich, entgegen der unter Philologen vorherrschenden opinio communis, ernsthaft zur Kenntnis. Denn zum einen sehen diese Wissenschaftler in den Begriffen lediglich den Bezug zum linguistischen Hintergrund wiederhergestellt, zum anderen zweifeln sie aufgrund dieser Annahme die Fortdauer der assyrischen Kultur und Tradition im Nahen Osten unter hellenistischer Herrschaft an. Gleichwohl stellt sich aber die Frage, wie solche Traditionen nicht hätten fortbestehen können, wenn bekanntermaßen die Römer und Griechen seit Platon bis in die Spätantike hinein die Spiritualität erlernten und sie sich ebenso seit den Assyrern und Babylonier die wissenschaftlichen Erkenntnisse aneigneten? Die von Natur aus kursive Form der syrischen Schrift selbst deutet seit ihren ersten Zeugnissen auf ein ausgedehntes aramäisches Literaturkanon in den Jahrhunderten nach der assyrischen Blütezeit hin. Wie bereits Fergus Millar anmerkt, „haben die syrisch-sprechenden Einwohner des offensichtlich einstigen Assyriens in keinster Weise unter der „historischen Amnesie“ gelitten…die syrische Chronik von Karka de bet Selok (heute: Kirkuk), welche etwa im sechsten oder siebten Jahrhundert verfasst wurde, beginnt mit der Gründung einer Stadt durch einen assyrischen König. Des weiteren wird in dieser Chronik die territoriale Ausdehnung durch die Seldschuken erwähnt und fährt mit dem Märtyrertum unter den Sassaniden fort.“ Derart historische Details, die bis zurück in die Anfänge der assyrischen Herrschaft reichen, wären ohne bereits niedergeschriebene Aufzeichnungen, definitiv nicht möglich gewesen.

Seit der Spätantike hat das Christentum in seiner syrischen Ausprägung einen wesentlichen Bestandteil der assyrischen Identität dargestellt. Wie bereits an anderer Stelle aufgezeigt wurde, war die Konvertierung der Assyrer zum christlichen Glauben ein leichter Prozess, da viele Lehren der frühen Kirche mit den Bräuchen der assyrischen Reichsreligion konform waren. In der Tat kann folgendermaßen argumentiert werden, dass viele Charakteristika und Dogmen des frühen Christentums auf den bereits existierenden Praktiken und Ideen basieren, die schon in der assyrischen Ideologie und dem Glauben eine große Rolle spielten. Derartige Elemente schließen die zentrale Bedeutung des Asketismus in der syrischen Auslegung des Christentums, den Kult um die Mutter Gottes, der Heiligen Jungfrau, und der Glaube an Gott, dem Vater, Sohn und Heiligen Geist mit ein, was dann auch in der Doktrin über die Dreifaltigkeit Gottes festgehalten wurde.

Im dritten Jahrhundert n. Chr. findet sodann die Trinitätslehre Eingang in die christliche Theologie. Und so trug es sich im Jahre 260 n. Chr. zu, dass der römische Papst Dionysios mit der Vorstellung von drei Hypostasen[3], welche Origen vorschlug, überrascht werden konnte. Aber woher rührten Origens Ideen her? Sein Lehrer war Clement von Alexandria, der seinerseits von einem assyrischen Lehrer, Tatian, unterrichtet worden ist. Es ist nicht bekannt aus welchem Teil Assyriens/Syriens Tatian genau stammt, jedoch wissen wir, dass er ein Assyrer war und schlechthin einen Teil religiöser Tradition darstellte, in welchem die Trinitätsvorstellungen für einige Jahrhunderte aktuell waren. Folglich war er es, der die grundlegende Quelle für Origens Lehre darstellte.

Nun wird es für einen Außenstehenden, der mit den historischen Fakten nicht vertraut ist, sich als schwierig erweisen den Zusammenhang zwischen dem assyrischen Reich und den heute aramäisch-sprechenden Christen nachzuvollziehen. Und wenn diese Erkenntnis ausbleibt, wird es für die Assyrer, die im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Unterdrückungen und Verfolgungen erleiden mussten, noch schwieriger, ihr verlorenes Land unter den souveränen Nationalstaaten wiederzuerlangen. Daher ist es unabdingbar, dass die Fakten, die der Herstellung dieses Verständnisses zugrunde liegen, systematisch gesammelt und insoweit aufgearbeitet werden, dass die Streitfrage definitiv anhand von nachgewiesenen Belegen ausgeräumt werden kann.

Projekt MELAMMU

Nun hat das zentrale Staatsarchiv für assyrische Studien der Universität Helsinki, Excellence, zur Realisierung dieses Vorhabens ein langfristig angelegtes Projekt namens MELAMMU (dt.: göttliche Pracht) ins Leben gerufen, das die Entwicklung und den Wandel der assyrischen Kultur und ethnischen Identität seit der post-imperialen Zeit bis zum heutigen Tage systematisch dokumentieren soll. Ein zentrales Ziel des Konzepts ist die Erstellung einer elektronischen Datenbank, die alle relevanten Beweise zusammenführen und weltweit im Internet zur Verfügung stellen soll. Das Projekt verfügt über ein internationales Koordinationskomitee und einem beratendem Vorstand, das verschiedene Studienbereiche deckt, von der Assyriologie bis über die iranischen, klassischen und religiösen Studien reichend. Nun hoffen wir mit Hilfe von assyrischen Institutionen in den USA und Schweden dieses Datenbanksystem innerhalb der kommenden Jahre in vollendetem und betriebsbereitem Zustand präsentieren zu können.

Sobald das MELAMMU-Projekt fertiggestellt ist, wird es mit Sicherheit nicht nur das Forschungsgebiet um das assyrische und babylonische Kulturerbe wesentlich vorantreiben, sondern die heute lebenden Assyrer bezeichnenderweise in ihrem Streben nach einer aussichtsreicheren Zukunft unterstützen. Im Speziellen erhoffe ich mir, dass MELAMMU sich im Zeitalter der Computertechnologie zu einer Inspirationsquelle für assyrische Jugendliche entwickeln wird. Denn es soll sie dazu animieren, sich für die Belange ihres Volkes einzusetzen. Ferner sollten sie dies mit Stolz tun, zumal sie nämlich die Nachfahren eines einzigartigen Volkes sind, das einen enormen Beitrag zur kulturellen Entwicklung der Menschheit beigetragen hat und darüber hinaus mehr als alle anderen Völker der Antike die Idee des Christentums verbreitet hat.

 

Los Angeles, im September 1999 – SIMO PARPOLA

übersetzt von NICME SEVEN

 


[1] Bezeichnung der altpersischen Statthalterschaft, wobei hier der Ausdruck Athura ein Lehnwort für das aramäische Wort Athur (dt.: Assyrien) ist

[2] Schwinden eines Vokals

[3] in der Religionsgeschichte eine göttliche Wesenheit („Gedanken-gottheit“), die die Personifizierung einer Eigenschaft oder einer Wirksamkeit einer höheren Gottheit ist; in der Trinitätslehre der griechische Begriff für „Person“, im Unterschied zu „Wesenheit“