Christianisierung

Dr. JACQUES ISKANDER

Die Urchristliche Mission

Die erste Christenheit war von der Gewissheit getragen, dass Gott seine Verheißungen wahr gemacht hat und durch seinen Geist gegenwärtig in ihrer Mitte handelt. Wer auf Christus getauft ist und den Namen des Herrn anruft, der gehört zu Gottes Volk. Aus dem Bewusstsein heraus, dass das Israel Gottes die Schar derer ist, die an Jesus, den Christus, glauben, musste sich notwendig die Erkenntnis ergeben, dass das Volk Gottes nicht auf Juden beschränkt bleiben konnte, sondern das Evangelium auch unter den Völkern auszurufen ist, um sie zur Umkehr und zum Glauben einzuladen.

Hellenistische Judenchristen, die Glieder der Urgemeinde waren, sind die ersten Missionare gewesen, die zu Samaritanern und Heiden hinauszogen. Die Apostelgeschichte nennt einen Kreis von sieben Männern, deren griechische Namen darauf hindeuten, dass sie aus jüdisch-hellenistischen Kreisen kamen und vermutlich aus der Diaspora auch einen freiern Umgang mit Nichtjuden gewöhnt waren.[1]

Durch hellenistische Judenchristen, deren Namen uns unbekannt sind, wurden christliche Gemeinden in Damaskus, Antiochien, Mesopotamien und an anderen Orten, die an den großen Verkehrswegen lagen, gegründet. Die Entwicklung muss sich ziemlich rasch vollzogen haben. Denn als Paulus kurze Zeit darauf Christ wurde, bestanden bereits christliche Gemeinden in der jüdischen Diaspora, mit denen er in Verbindung trat.

Die urchristliche Mission wurde nicht von einer Zentrale aus ins Werk gesetzt und geleitet, sondern entstand durch das Handeln einzelner Christen und Gemeinden, die das Wort von Mund zu Mund weitertrugen. Weil man sich zu Christus als dem Herrn bekannte, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, wusste man sich auch von ihm beauftragt, seine Herrschaft in aller Welt auszurufen. Dabei folgte die urchristliche Mission den Wegen, die vor ihr die jüdische Mission gegangen war.

Die Mission geschah weithin unorganisiert und spontan durch Glaubensboten, die sich zu diesem Werk gedrängt fühlten, noch mehr durch Christen, die ihre Heimat verlassen oder ihren Wohnort wechseln mussten. Reisende, Kaufleute, Soldaten, auch Gefangene und Sklaven werden zu Recht als wichtige Träger der Glaubensverbreitung gesehen, auch wenn sie nicht als Missionare im engeren Sinn gewirkt haben. Man begnügt sich nicht mit zufälligen Bekehrungen, sondern trieb die Glaubensverbreitung aktiv weiter, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem flachen Land. Es scheint dafür Berufsmissionare gegeben zu haben, die ohne amtlichen Auftrag, charismatisch erweckt, ähnlich den frei wirkenden Lehrern in den großen Städten ihre Tätigkeit ausgeübt haben.[2]

Im Ostsyrien macht das Christentum im Hauptort Edessa (Urhoi) im 3. Jh. solche Fortschritte, dass es am Anfang des 4. Jh. als christliche Stadt gelten kann, die den Mittelpunkt der syrischen Christenheit bildet. Die Anfänge einer christlichen Schule von Edessa reichen wohl ebenfalls noch in das 3. Jh. zurück. Von hier nimmt auch die Mission auf dem Lande ihren Ausgang, das schon um 260 mehrere bischöfliche Gemeinden aufweist. Zur gleichen Zeit macht das Christentum Fortschritte im östlich sich anschließenden Mesopotamien, dass am Euphrat am Beginn des 2. Jh. eine christliche Gemeinde hatte, deren Kulträume in einem für diesen Zweck umgebauten Privathaus wieder aufgefunden werden konnten. Die Existenz weiterer Gemeinden in Mesopotamien ist durch einen Hinweis des Bischofs Dionys von Alexandrien gesichert.[3] Im 3. Jh. entstehen auch noch die Bistümer Nisibis, das später ein intellektuelles Zentrum der ostsyrischen Christenheit werden sollte, und Seleukia-Ktesiphon am Euphrat, die zukünftige kirchliche Metropole dieses Gebietes.[4]

Im Mesopotamien hatte bereits im Jahre 160 Tatian einen syrischen Evangelientext geschaffen (das sog. Diatessaron, eine Evangelienharmonie) und damit als ein kirchliches Gegenunternehmen das altsyrische „Evangelium der Getrennten“ ausgelöst. Im Unterschied zu solchen verhältnismäßig frühen Zeugen eines Gottesdienstes in der syrischen Landessprache liegen die Anfänge der kirchlichen Metropole Edessa im Dunkeln. Die von Euseb mitgeteilte Abgarlegende[5], wonach das Land durch einen von Jesus entsandten Addäus (Adai) missioniert worden sei, erhellt diese Anfänge noch weniger als ein Synodalschreiben syrischer Gemeinden in Ostsyrien an Bischof Viktor von Rom wegen des Ostertermins.[6] Das gilt auch für die Nachricht von der Existenz eines Kirchengebäudes in Edessa um 201, welche die Chronik von Edessa gibt, und für den Bericht über die Weihe eines Mannes namens Palut zum Bischof der Stadt durch Serpion von Antiochien (190 – 210), den im 4./5. Jh. die sog. Doctria Addai bietet.[7] Durch Ephrem dem Syrer (4. Jh.) steht nur fest, dass es im Übergang vom 2./3. Jh. in Edessa einen Bischof Palut gegeben haben muss, der den Kampf gegen gnostisches Christentum und markionitische Gemeinden aufnahm. Denn diese häretischen Gemeinschaften bezeichneten noch zu Zeiten Ephrems die großkirchlichen Gemeinden als „Palutianer“ (Madrasch gegen die Irrlehre).

Die Ursachen der schnellen und weiten Verbreitung des Christentums im Mesopotamien

Fragt man nach den Ursachen der so überaus raschen und weiten Verbreitung des Christentums, für die es in der Geschichte keine Parallele gibt, so ist vor allem zu erinnern an die früher geschilderte Vorbereitung der alten Welt auf die Erlösung nach der negativen und positiven Seite hin: Verfall und Entleerung der antiken Religionen, Ersatzversuchen, Zug zum Monotheismus usw. Von den Anziehungskräften, die innerhalb der christlichen Religion selbst liegen, kommt vor allem die Macht der Wahrheit in Betracht. Sie musste sich um so wirksamer erweisen, je mehr das Evangelium an Gehalt und Fasslichkeit alle Weisheit der Welt überragte und je besser es die großen Fragen löste, die von jäh her den Menschengeist beschäftigten und quälten, die Fragen nach Gott, der Unsterblichkeit der Seele, dem Zweck des irdischen Lebens, der ausgleichenden Gerechtigkeit usw.

In zweiter Linie fällt der Glaubensfeier der ersten Christen ins Gewicht. Männer und Frauen, Vornehme und Geringe, Freie und Sklaven, Gebildete und Ungebildete, Reiche und Arme ließen sich die Verbreitung des Evangeliums als Laienapostel angelegen sein. Nach urchristlicher Auffassung ist jeder Christ Kraft der in der Taufe verliehenen Gabe und Aufgabe ein Missionar seines Glaubens. Das durchschlagendste Motiv zugunsten des Christentums und eine häufige Ursache von Bekehrungen waren jedoch die Standhaftigkeit der Christen in den Verfolgungen und der Heldenmut der Märtyrer, die ihr Leben für Christus hingaben.

In der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts gerät Edessa endgültig in Abhängigkeit von Antiochien, dass das sich in ganz Syrien bis nach Mesopotamien hinein und über den Tigris hinaus immer mehr ausbreitendem Christentum unter seine Botmäßigkeit zu bringen sucht. Syrien nimmt nun an der Geschichte der orthodoxen Reichskirche, den Christenverfolgungen, der Festigung in Lehre und Organisation und an den großen Konzilien teil. Doch gewinnt die griechische Orthodoxie nie völlig die Überhand. Umgekehrt gelingt es später weder den Nestorianern noch den das Chalkedonense ablehnenden sogenannten Monophysiten die endgültige Herrschaft an sich zu reißen. Die syrische Christenheit bleibt gespalten und in ihren einzelnen Gruppen jeweils weithin von dem Wohlwollen der betreffenden politischen Herrscher abhängig: Byzanz im Westen – Persien im Osten.[8]

Damals war die Spaltung der syrischen Christen bereits besiegelt. Kaiser Jovian (363/364), der Nachfolger Julians, hatte den Perserkrieg mit dem endgültigen Verluste der Stadt Nisibis beendet.[9] Damit hatte sich das Christentum am Tigris auf die Dauer mit der Perserherrschaft abzufinden. Zunächst kommt es aber noch nicht zur Organisation derjenigen Kirche, die sich heute als „die assyrische Kirche des Ostens“ bezeichnet. Denn die Führungsschicht des östlichen Christentums zieht sich fliehend in den Westen nach Edessa zurück und gründet dort zu jener Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach die berühmte „Schule der Perser“ – Edessa einmal mehr zur wissenschaftlichen Hochburg machend, zu der die Christen aus dem gesamten Orient hin streben.

Die Orientalischen Kirchen

Das orientalische Christentum ist durch seine konfessionellen Aufspaltungen gekennzeichnet. Die Voraussetzungen dafür liegen weit zurück. Zunächst war die Sprache der Christenheit das Koine-Griechisch, das uns aus dem Neuen Testament bekannt ist. Es wurde in den Städten des römischen Reiches überall verstanden. Um 200 zeigte sich die sprachliche Verselbständigung des Westens. Hier wurde das Lateinische ebenso die Sprache des Gottesdienstes und löste das Griechische ab. Als sich das Christentum von den Städten aus in die ländlichen Gebiete verbreitete, stieß es auch in den Bereichen der verschiedenen Volkssprachen vor. Diese Entwicklung war im Osten des römischen Reiches besonders bedeutsam, weil hier Völker mit alten kulturreichen Traditionen lebten. So wurde bei der Ausbreitung des Christentums die Übersetzung der griechischen Bibel in die Landssprachen nötig. Diese wurden dadurch erst zu Literatursprachen erhoben, wie z. B. das syrische und armenische.

Im Unterschied zum Westen entwickelte sich also im Osten ein national-differenziert geprägtes Christentum. Mit der Sprache ist aber auch das Denken verbunden. Die Dogmen der alten Kirche beruhen auf der philosophischen Begrifflichkeit der griechischen Sprache. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese auf dem Boden des Griechentums entstandenen Dogmen in anderen orientalischen Sprachbereichen entweder auf besondere Weise gedeutet oder sogar abgelehnt wurden. Die christologischen Lehrstreitigkeiten des 5. und 6. Jahrhunderts hatten den Zerfall der kirchlichen Einheit im Mesopotamien zur Folge. Es entstanden die verschiedenen Nationalkirchen. Selbstverständlich spielten in diesem Prozess nicht nur rein theologische, sondern auch politische, kirchlichenpolitische und nationale Fragen eine bedeutende Rolle.

Die Assyrische Kirche des Ostens (Nestorianer)

Die Nestorianer sind nach Nestorius benannt, den das Konzil von Ephesus (431) als „gottlosen Lehrer“ abgesetzt hatte. Nestorius war Patriarch von Konstantinopel gewesen. Er unterschied streng zwischen der göttlichen und menschlichen Natur in Christus und lehnte die Vorstellung von einer physischen oder hypostatischen Einheit von Gott und Mensch in Christus ab. Gleichwohl bestritt er, „zwei Söhne“ in Christus zu lehren. Er vertrat die Meinung, in Christus seien die beiden zur Menschheit und Gottheit gehörenden „Personen“ zu einer geschichtlich in Erscheinung tretenden „Person“ „gemäß dem Wohlgefallen“ Gottes vereinigt. Durch diese Theorie war er nicht imstande, „den Gedanken an eine bloß moralische Vereinigung der beiden Naturen abzuwehren“[10]. In der Verbannung hörte er noch von der Einberufung zum Konzil nach Chalcedon (451) „und fasste das als Sieg des rechten Glaubens auf“[11]. Das Konzil von Chalcedon bestimmte, Christus bestehe „in zwei Naturen, unvermischt und unverwandelt, ungetrennt und ungesondert, die beide in einer Person und einer Hypostase zusammenkommen“.[12] Die Anhänger des Nestorius lehnten das Bekenntnis von Chalcedon ab. Im byzantinischen Reich verfolgt gewann der Nesorianismus vor allem im Perser Reich an Boden, wo er sich seit 484 aus der großkirchlichen Entwicklung herauslöste und konfessionell verselbständigte.

Die im Mesopotamien wohnenden Nestorianer betrachteten die arabischen Eroberer zunächst als Befreier. Obwohl jene Christen nicht der Herrschaft des Kaisers unterstanden, der gewiss versucht hätte, ihnen den orthodoxen Glauben aufzuzwingen, waren sie im Reich der Perser doch nur geduldet. Denn hier herrschte die Religion Zarathustras als Staatsreligion. Wenn die persischen Könige die Nestorianer auch wegen ihres konfessionellen Gegensatzes gegen die byzantinische Orthodoxie tolerierten, so blieben ihnen doch Verfolgungen nicht gänzlich erspart. Deshalb hofften die Nestorianer zunächst, dass die arabische Eroberung eine Besserung ihrer Lage mit sich bringen würde, zumal unter den arabischen Herrscharen auch einzelne christlich-arabische Stämme vertreten waren. Indes stellten diese christlichen Nestorianer eine unbedeutende Minderheit dar.

Schon im 7. Jh. hörte im Mesopotamien und im Westen des Iran sowie in den südlichen Randlandschaften des Kaspischen Meeres der missionarische Zuwachs auf. Das in Fars vertretene nestorianische Christentum war schon um 1000 dem Islam erlegen. Islamische Mystiker entfalteten hier eine rege Predigttätigkeit, verbunden mit sozial-karitativer Hilfe, was zu Massenbekehrungen von Zoroastriern und Christen führte.

Besonders verdient machten sich die Nestorianer um die Pflege der Wissenschaften. Ihre theologische Literatur gründete sich auf die Schriften der griechischen Kirchenväter, unter denen Nestorius und andere Vertreter der antiochenischen Schule im Vordergrund standen. Philosophisch stützte sich der Nestorianismus auf Aristoteles. In Verbindung mit den Schriften des Aristoteles wurde auch das naturwissenschaftliche Erbe der Antike bewahrt. Die Pflege der Naturwissenschaften führte dazu, dass die Nestorianer als Ärzte, Bankiers und Juweliere in der Gesellschaft eine einflussreiche Stellung einnahmen.

Unter den Übersetzern ist besonders Hunain ibn Ishaq (808-873) mit seiner Familie zu erwähnen. Er soll mehr als 260 Werke übersetzt und mehr als 100 selbst verfasst haben. Als Übersetzer war er bei Christen und Muslimen gleichermaßen geschätzt. Griechische Schriften übertrug er für jene ins Syrische, für diese ins Arabische. Durch seine Übertragung entwickelte er für die arabische Sprache eine differenzierte wissenschaftliche Terminologie, wie sie das Syrische auf Grund seiner älteren wissenschaftlichen Tradition schon besaß.

Von einschneidender Bedeutung für die Geschichte der nestorianischen Kirche war der mongolische Völkersturm. Während die Nestorianer unter Muslimen nicht missionieren durften, breiteten sie das Christentum in Zentralasien und China aus. Im 9. Jh. kam der missionarische Vorstoß vorübergehend zum Stehen. Im 13. Jh. blühte aber die Mission der Nestorianer neu auf, und zwar besonders unter den Mongolen, die im Laufe des 13. Jh. China eroberten. Die Nestorianer erfreuten sich unter Mongolenherrschaft zunächst religiöser Duldung. Ihre Geistlichen waren sogar von Steuern befreit.

Um das Jahr 1300 trat aber ein ernüchternder Wandel ein. Aus politischen Gründen nahm der Herrscher Persiens den Islam an, der natürlich unter der Bevölkerung viel stärker verbreitet war als das Christentum. Von nun an hatten die Christen ihre privilegierte Stellung verloren. Die Tatsache, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten die Mongolen als Befreier vom Joch der islamischen Herrschaft betrachtet hatten, machte sie sich in den Augen der muslimischen Bevölkerung verhasst. Es kam zu spontanen Ausschreitungen gegen die Christen, später auch zu staatlich verordneten Repressalien. Mit der Masse der Mongolen traten nun auch viele Christen im Mesopotamien zum Islam über. So war das 14. Jh. für die Nestorianer eine Zeitspanne innerer Auszehrung. In diesem Zustand brach über die Nestorianer und andere morgenländische Christen ein maßloses Unglück herein: Timur Lenk (1336-1405) erklärte sich unter Verfugung auf den Koran zum Erneuerer des mongolischen Weltreiches. Timur Lenk fügte den Nestorianern größten Schaden zu. Doch nicht nur in ihrem Stammgebiet, dem Zweistromland, erlitt die nestorianische Kirche schwerste Einbußen, auch die Gemeinden in Zentral- und Ostasien erloschen.

Zersetzend wirkte auch die Union, die im 16.Jh von einem Teil der Nestorianer mit der römischen Kirche geschlossen wurde. Fortan waren die Nestorianer in Chaldäer und Assyrer gespalten, wobei man die Unierten Chaldäer nennt. Die schwerste Katastrophe kam über sie im ersten Weltkrieg. Die Nestorianer wurden von den Türken und Kurden blutig verfolgt. Man schätzt, dass die Hälfte dieser Christen dabei umkam. Die Überlebenden wurden nach und nach im nördlichen Irak, auf Zypern und in den USA angesiedelt. Seit 1940 residiert ihr Patriarch in Chicago. Diese Gemeinschaft ist Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen. Die Gruppe, der mit Rom unierten Chaldäer, hat ihren Patriarchen in Bagdad und soll ziemlich groß sein.[13]

Fragt man nach den Gründen des Verfalls dieser geographisch einst am weitesten verbreiteten christlichen Kirche, so kann nicht nur auf den langen Druck der islamischen Herrschaft verwiesen werden, der sich im Besonderen seit der Islamisierung der Mongolen verstärkte. Es sind daneben auch innere Gründe des Verfalls zu berücksichtigen. Die Minderheitenstellung der Nestorianer zwang sie zu einer bedenklichen Anpassung an ihre religiöse Umwelt. So übergeht das nestorianische Bekenntnis auf der Säule von Singanfu China, 781 n. Chr.) wichtige Wahrheiten des christlichen Glaubens. Schließlich war es den Nestorianern nie gelungen, eine Dynastie für sich zu gewinnen, obwohl sie sich zur Zeit der Mongolenherrschaft gewisser Sympathien vorübergehend erfreuten. Im Mittelalter hatte eine christliche Konfession nur dann Aussicht zur Volkskirche zu werden, wenn sie die herrschende Schicht bekehrte. Dies zeigt sich beispielhaft an der Christianisierung der Germanen. Etwas Ähnliches ist den Nestorianern versagt geblieben.

Die Syrisch Orthodoxe Kirche von Antiochien (Jakobiten)

Im 6. Jh. zeigte die Westsyrische Kirche in jeder Hinsicht ein vielgestaltetes und trotz aller Tumulte blühendes Leben. Theologische Streitigkeiten und die Fortexistenz mancher alten Sekten und deren Zusammenkünfte hinderten keineswegs die Blüte der syrischen Literatur, wenn sie diese nicht eher sogar förderten und anregten.

Das Mönchtum steht jetzt in voller Blüte und genießt höchstes Ansehen. Die Klöster sind Stütze und Zufluchtsort der Bischöfe und Patriarchen, oft ihre heimliche Residenz. Die Klöster sind zugleich der Hort des nationalen Syrertums und über die Mönche erst findet die Hierarchie eine feste Verbindung mit dem Volk.[14] Eine typisch syrische Form der Askese ist das Stylitentum, das Simeon der Ältere aus Sis im nördlichen Syrien einführte. Aber die Mönche widmen sich auch naturwissenschaftlichen Arbeiten und studieren die Medizin. So entstehen in Edessa, Amid (=Diyarbakir) und Nisibin in den ersten christlichen Jahrhunderten bedeutende medizinische Akademien.

Für Muslime galten die syrischen Christen, wie die Juden und die Sabier von Harran, als Monotheisten und Schriftbesitzer und konnten somit ihren Kult fortsetzen. Sie durften aber keine neuen Kirchen errichten, Kreuze auf ihren Bauten zeigen oder Glocken läuten lassen.[15] In dieser Zeit und während des Mittelalters erreichte die syrische Kirche ihren geistigen und theologischen Höhepunkt. Gerade das Studium dieser von der Forschung noch weithin vernachlässigten Periode zeigt erst ihre Eigenart, ihren Charakter in voller Entfaltung.

Für die syrische Kirche ist so auch das 12. Jahrhundert das Zeitalter der syrischen Renaissance, eine der größten Blütezeiten.[16] Das zeigt bereits die gut ausgebaute Organisation der Kirche. Dem Patriarchen unterstanden zwanzig Metropoliten mit etwa hundert Bischöfen in Syrien, Kleinasien, Türkei und im Irak. In der Neuzeit ist die Kirche allmählich bis auf den harten Rest zusammengeschmolzen. Die Zeit ihrer großen Theologen und Schriftsteller war vorbei.

In der ersten Hälfte des 19. Jh. kommt dazu die protestantische Mission, die zu weiteren Zerspaltungen der Christen in Mesopotamien führte. Bemühen sich die Anglikaner ähnlich den römischen Missionaren um ein Eingehen auf die Sitten und Gebräuche, das Lebensgefühl jener alten Christen dort, so begegnen ihnen die nordamerikanischen Kongregationalisten und Presbyterianer oft mit völligem Missverständnis. Man versucht diese „gottlosen“ Leute zunächst zu reformieren und tritt ihnen, die viele Jahrhunderte ihren Christenglauben unter den widrigsten Umständen bewahrten, mit ungerechtfertigtem Hochmut gegenüber. Der Sinn der „Reformen“ wird den Christen somit wenig deutlich und ihre Anlehnung an Rom und seine Ordensschulen wird damit geradezu gefördert. Die auch beabsichtigte Mission der Muslime hat infolge der zahlreichen innerchristlichen Reibereien von vornherein keine Chancen.

Vor dem ersten Weltkrieg war die Zahl der Jakobiten auf ungefähr 300 000 gestiegen. Damals lebte die größte Gruppe in den etwa 150 Dörfern des Tur Abdin. Diyarbakir, Urfa, Mosul, Haleb (Aleppo) und Baghdad. Die Städte Damaskus und Jerusalem galten als ihre hauptsächlichsten Zentren. Abgesehen von etwa 30 oder 40 Dörfern des Tur Abdins, die noch syrisch sprachen, waren alle zur arabischen Sprache übergegangen.

Residiert der Patriarch bis 1924 noch in dem seit 1293 traditionellen Patriarchatskloster Deir Al-Zafran/Türkei, so konnte die Residenz bald nach Homs/Syrien und seit 1959 nach Damaskus verlegt werden und damit wieder in das Zentrum einer politischen Hauptstadt versetzt werden.

 

Dr. JACQUES ISKANDER

Wien, im März 2003


[1] Vgl. Apg 6,5

[2] G., Bardy, Menschen werden Christen. Das Drama der Bekehrung in den ersten Jahrhunderten Freiburg 1988, 277

[3] Vgl. Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte. Hrsg. und eingel. V. H. Kraft (Darmstadt 1967) HE 7, 5, 2. Aus der Chronik von Arbela lassen sich keine sicheren Daten entnehmen, da ihre Angaben für die ältere Zeit zweifelhaft sind.

[4] Vgl. A. Allgeier, Untersuchungen zur ältesten Kirchengeschichte von Persien, 224-241

[5] Die Legende verlegt die Bekehrung des Landes sogar in die apostolische Zeit. Von dem kranken König Abgar IV brieflich um Heilung gebeten, habe Christus in seinem Antwortschreiben versprochen, einen seiner Jünger zu diesem Zwecke zu senden. Nach seiner Auffahrt sei in der tat durch Addäus oder Thadäus, einen der Siebzig, die Aufgabe ausgeführt und das Evangelium in Edessa verkündigt worden.

[6] Vgl. Euseb, a.a.O., KG 5, 23, 4; die Notiz fehlt zudem im ältesten Textzeugen: Rufin

[7] Dazu die kritische Wertung bei W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei, Tübingen 19642

[8] Vgl. W. Hagemann, Die rechtliche Stellung der Patriarchen von Alexandrien und Antiochien, in: Ostkirchliche Studien 13, 1964

[9] Th. Nöldeke, Über den syrischen Roman von Kaiser Julian, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 28, 1874

[10] Vgl. Berthold Altaner – Alfred Stuiber, Patrologie, Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, 19788 337

[11] Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3.Aufl., Bd. 4 Sp. 1406, Artikel „Nestorius“ (Luise Abramowiski)

[12] Hubert Jedin, Kleine Konziliengeschichte, 19698, TB, 29

[13] Lexikon der islamischen Welt, hrsg. v. Klaus Kreiser, Werner Diem u. Hans Georg Majer, 3. Bd. 1974, TB, Bd. 1, 126, Artikel „Christen“ (Julius Aßfalg).

[14] Vgl. Alfred Adam, Grundbegriffe des Mönchtums in sprachlicher Sicht, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 65, (1953/54), 209-239

[15] Vgl. Wolfgang Hage, Die syrisch-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit nach orientalischen Quellen, Wiesbaden 1966

[16] Vgl. Peter Kawerau, die Jakobitische Kirche im Zeitalter der Syrischen Renaissance, 2. Auflage Berlin 1955