Eine Buchbesprechung von Abdulmesih BarAbraham

Svante Lundgrens „Die Assyrer – Von Ninive bis Gütersloh“

Das Buch von Svante Lundgren erschien in der schwedischen Originalausgabe unter dem Titel „Assyrierna – från Nineveh till Södertälje“ im Frühjahr 2013. Die dieses Jahr auf Deutsch erschienene Ausgabe ist nicht nur eine Übersetzung, sondern ist in einigen Stellen an die Lage der Assyrer in Deutschland angepasst und behandelt u.a. spezifische Aspekte der Migration und des Vereinslebens.

Diese Teile wurden von Dr. Aryo Makko editiert, der auch die Übersetzung des Buches aus dem schwedischen tätigte. Die deutsche Ausgabe erschien im LIT Verlag (ISBN 978-3-643-13256-7) in der Reihe Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte und kostet 19.90 Euro; das Buch ist im deutschen Buchhandel erhältlich.

Im Jahre 2012 erschien im Verlag der Uppsala Universität eine wissenschaftliche, multi-disziplinäre Anthologie unter dem Titel „The Assyrian Heritage: Threads of Continuity and Influence.“ Basierend auf Erkenntnissen dieser wissenschaftlichen Anthologie aber auch auf weiteren Recherchen des Autors mit zusätzlichen Quellen und Sekundärliteratur, entstand dieses Buch. Der Autor Svante Lundgren ist Gelehrter für Jüdische Studien. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikation veröffentlicht und schrieb u.a. mehrere populärwissenschaftliche Bücher, einschließlich einer Holocaust-Trilogie. Seit Januar 2012 ist Lundgren Gastforscher am Zentrum für Theologie und Religionswissenschaft der Universität Lund.

Nach dem Vorwort orientiert sich die Aufteilung des Buches an den wichtigen Epochen der Jahrtausende umfassenden assyrischen Geschichte (Imperiale Zeit, Christentum, Verfolgung, Diaspora und Assyrische Kontinuität), die in Kürze abgehandelt werden. Zudem beinhaltet das Buch am Ende eine wertvolle Zeitachse sowie ein weiterführendes Literaturverzeichnis mit einem Register.

Ein das Buch durchziehender Aspekt ist die assyrische Identität über die Jahrtausende. Schon sein Vorwort betitelt Lundgren mit der „Suche nach einer assyrischen Identität“. Er spricht die für Kenner der Volksgruppe sichtbare Identitätskrise der Assyrer und ihre Zersplitterung in verschiedene kirchliche Konfessionen an – aber auch die seiner Meinung nach verworrene Situation in Bezug auf die Eigenbezeichnungen, welche im Wege einer nationalen Identität stehen. Zudem habe im Falle der Assyrer die religiöse die ethnische Identität geschwächt.

Nach Lundgren ist eines der Probleme auf diesem Weg die Tatsache, dass assyrischer Nationalismus ein Produkt des 19. Jahrhunderts sei und die verschiedenen Konfessionen zu umfassen versuche. Das sei im Ansatz richtig. Doch im Nahen Osten würden sich die Menschen in erster Linie über ihre Religion, ja sogar noch enger, über ihre Konfession identifizieren. Zudem sei das Problem teilweise auf die historisch angespannten Verhältnisse der einzelnen Kirchen untereinander zurückzuführen – auch in ihren Bemühungen sich den Regimen des Landes, in Kontrast zu den anderen, als treue Vasallen anzubieten. Als die ersten Assyrer im Jahre 1967 nach Schweden einreisten, wurden sie auch als solche bezeichnet. Mit der Zeit keimte allerdings der Identitätskonflikt auf, welcher die Gemeinschaft bis heute spaltet.

Im Kapitel über die Imperiale Zeitepoche stellt Lundgren Eingangs fest, dass die Assyrer zwar ein staatenloses Volk seien, jedoch keineswegs ein Volk ohne Land. Seit Jahrtausenden existiere ein Land, ein geografisches Gebiet namens Assyrien, welches bis in die Gegenwart als assyrisches Kernsiedlungsgebiet genutzt wurde. Lundgren geht kurz auf die Reiche Sumer, Babylon und Assyrien ein, die jahrhundertelang Bestand hatten und Spuren hinterließen. In seiner Blütezeit umfasste das Assyrische Reich (als das Land Assurs) den gesamten Nahen Osten vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer und große Teile Anatoliens. Mit Referenz zu den Forschungsarbeiten des finnischen Assyriologen Prof. Simo Parpola behandelt Lundgren darüber hinaus die sprachliche Aramäisierung und kulturelle Assyrianisierung während der Imperialen Epoche und geht auf die Situation in Tur Abdin ein. Zudem geht er, mit Verweis auf aktuelle wissenschaftliche Forschungen vom österreichischen Prof. Robert Rollinger, auch kurz auf die Identität der Begriffe Syrien und Assyrien, aber auch Assyrer und Syrer ein.

Im 2. Kapitel behandelt Lundgren die Epoche des Christentums und stellt fest, dass die assyrische Identität mit dem Christentum eng verbunden sei. Dies sei auch typisch für Völker des Nahen Ostens, wo nationale und religiöse Identität oftmals eng miteinander verbunden seien. Den Assyrern, ähnlich wie den Armeniern, habe dies bei der Bewahrung ihrer Identität geholfen, da sie ansonsten in der überwiegend islamischen Umgebung assimiliert worden wären. Nach Lundgren hätten die Gemeinsamkeiten zwischen der alten assyrischen Religion und dem christlichen Glauben den Übergang und die Annahme der neuen Religion erleichtert. Als Beleg führt er basierend auf Forschungen von Assyriologen die Beispiele der Dreifaltigkeit, des Kreuzes und des Monotheismus auf.

Das kirchliche Leben florierte bis in das 13. Jhd. und wurde geprägt von theologischen Schulen und Schriften, welche bis heute akribisch von Wissenschaftlern studiert werden. Die theologischen Schulen von Nisibis, Edessa und Gundeshapur gehörten sowohl der west- als auch der ostkirchlichen Tradition an. In manchen, wie die in Nisibis, studierten zeitweise mehr als 1000 Studenten Theologie, Philosophie und Medizin. Lundgren verweist auf die Assyrer, welche die griechischen Werke der Antike (u.a. Platon und Aristoteles) ins Arabische übersetzt haben, wodurch diese Jahrhunderte später nach Europa gelangten.

Im 5. Jhd. entstanden dann aufgrund von christologischen Streitigkeiten und Spaltungen verschiedene Kirchen. Im 17. Jhd. kamen Spaltungen durch katholische und später im 19. Jhd. durch evangelische Missionierungen dazu.

Am Ende des 2. Kapitels skizziert Lundgren die heutige Lage der Kirchen in den Heimatländern der Assyrer und vergleicht sie mit der Situation in der Diaspora. Neben der Verfolgung in den Heimatländern ist insbesondere in Bezug auf die Säkularisierung die Entwicklung in der Diaspora und im Nahen Osten nicht vergleichbar. Diese Säkularisierung, zusammen mit der Auswanderung nach Europa, sei eine Herausforderung für die Kirchen der Assyrer. Die Auswanderung stelle gleichzeitig eine Gefahr für die Erhaltung der Identität der Volksgruppe dar.

Kapitel 3 widmet sich der Verfolgung; Lundgren stellt fest, dass die Assyrer im Laufe ihrer Geschichte wiederholt schweren Verfolgungen ausgesetzt gewesen sind. Während nach Meinung des Autors einer der Gründe die geographische Lage sei, sei auch ihre Zugehörigkeit zum Christentum ausschlaggebend gewesen. Christenverfolgungen in der Region existierten seit der Entstehung des Christentums. Lundgren gibt Beispiele aus der persischen, arabischen und osmanischen Zeit der Eroberungen, welche im Jahr des Schwertes 1915 (Sayfo) kulminierten. Insbesondere haben die Verfolgungen im Sassanidenreich im 4. Jhd., die mongolischen Übergriffe des Timur Lenk im Mittelalter und der von den Jungtürken verübte Völkermord Anfang des 20. Jhd. die Assyrer dezimiert. Ganz besonders Sayfo habe bei den Assyrern ein tiefgreifendes Trauma über Generationen hinweg hinterlassen. Doch auch in der Folgezeit hätten Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung kein Ende genommen. Schließlich kommt Lundgren auf die katastrophalen Ereignisse seit dem Einmarsch der Amerikaner im Irak im Jahre 2003 und auf die Lage in Syrien zu sprechen; diese seien geprägt von Verfolgung, ethnischen Säuberungen, Sprengstoffanschläge auf Kirchen, Entführungen etc., welche die gegenwärtig beobachtbare Massenflucht der Volksgruppe zur Folge hätten.

Dies leitet zum 4. Kapitel des Buches über, in dem sich der Autor der Diaspora widmet und die Migrationsphasen der Assyrer aus den Heimartländern ab dem 18. Jhd. Skizziert. Ausführlicher behandelt er anschließend die Auswanderungswellen der Assyrer nach Deutschland – zunächst als Gastarbeiter im Zuge des Anwerbeabkommens mit der Türkei seit 1963 und später als Asylsuchende. Diese zweite Welle war Folge der zunehmenden Spannungen in der Heimat Tur Abdin bedingt durch den türkisch-kurdischen Konflikt. Die dritte Phase der Auswanderung wurde schließlich durch die amerikanische Invasion des Iraks im Jahre 2003 verursacht.

Lundgren diskutiert Aspekte der Integration der Assyrer und deren Vereinsleben. Im Zuge der Etablierung in der neuen Heimat beginnen die Spaltungen zunächst in Schweden; die inner-gesellschaftlichen Konflikte weiten sich mit der Etablierung der ersten assyrischen Vereine und des assyrischen Verbandes auch nach Deutschland aus. Ein wichtiges Thema, das der Autor anspricht, ist die Identitätserhaltung und die Gefahr der Assimilation. Die Religion, die über Jahrhunderte hinweg zur Identität beigetragen habe, sei in Europa kein Faktor mehr, welcher eine Assimilation verhindern könne; die Sprache und deren Erhaltung seien wichtiger in der Diaspora. Doch Lundgren erkennt, dass die Unterschiede in der Umgangssprache Surayt (bisher kaum niedergeschrieben) und der Schriftsprache Suryoyo (hauptsächlich als Kirchensprache dienend) ein Problem darstellen. Deshalb sind seiner Meinung nach beide, die Sprache und die Religion, bedingt nützlich zur Identitätserhaltung. Er regt daher an, das Bewusstsein über die Herkunft und den Wurzeln der Volksgruppe zu wahren sowie die völkischen Traditionen zu pflegen. Dazu gibt er Beispiele aus der jüdischen Diaspora. Zusätzlich bleibe die Bezogenheit auf die Heimat bedeutungsvoll für die Identitätswahrung.

Im letzten Kapitel widmet sich Lundgren Aspekten der Kontinuität und stellt fest, dass man als Volk in dieser Frage gespalten sei. Kontinuität sollte seiner Meinung nach nicht allein aus der genetischen oder biologischen Perspektive betrachtet werden, sondern vielmehr auch aus kultureller Sicht. Bei der assyrischen Kontinuität würden Geographie, Sprache, Selbstbezeichnung und kulturelle Traditionen allesamt auf die Verbindung mit den alten Assyrern hinweisen.

Abschließende Bewertung

Das Buch von Svante Lundgren ist eine überaus fachkundige Einführung in die Geschichte der Assyrer, welche auf 150 Seiten mehrere Jahrtausende überspannt und dennoch die wesentlichen historischen Epochen der Volksgruppe thematisiert. Sehr wertvoll sind auch die nach Kapiteln gegliederten und weiterführenden Literaturhinweise. Das Buch ist empfehlenswert für alle, die den großen Bogen der viertausendjährigen Geschichte der Assyrer im Zusammenhang verstehen wollen; das macht das Buch einzigartig. Für den Teil der in der Diaspora aufwachsenden Jugend, der bisher keine gesamtgeschichtliche Darstellung über sein Volk in Händen hatte, sollte es als Pflichtlektüre dienen. Hätten Assyrer Mittel- bzw. Oberschulen, wäre dieses Buch mit seiner verständlichen Sprache als Schulbuch geeignet. Der Autor, als Kenner und Freund der Assyrer, drückt auch seinen Wunsch aus, dass die Assyrer, trotz der schwierigen Zeit, die sie im Nahen Osten durchmachen, ihren Stolz auf die Geschichte und die Hoffnung für die Zukunft nicht aufgeben sollten – ja diese sogar bewahren sollten. Für diese wichtige Botschaft und für diesen wertvollen wissenschaftlichen Beitrag sind ihm die Assyrer dankbar.

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